Der Bairische Blues fährt ins Blaue - und ist dann mal weg

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Glastonbury

Glastonbury

Samstag, 30.4.2022 

Ein herrlich blauer Morgen ist über Avalon, jedenfalls über dem Avalon Touring Park, aus den Wiesen gestiegen und begünstigt einen seeehr langen Anlauf des Bairischen Blues. Die Hunde bekommen ihren Morgenspaziergang und anschließend die gesamte Viererbande ein ergiebiges Frühstück, draußen unter der mythischen Sonne Avalons. Wir ahnen, dass wir heute ordentlich was im Magen brauchen, damit wir den vibrations Glastonburys standhalten können.

Um 12:30 Uhr fühlen wir uns stark genug für die Stadt und den Tor. Doch bevor wir uns in die benebelte Szene begeben und uns unter die Blumenkinder und Erlösungsheischenden mischen, müssen wir unseren Verfolgern noch das historische und mystisch-mythische Rüstzeug auf den Weg geben, ohne welches man Auf- und Umtrieb dieser Stadt nicht verstehen kann.  

In Glastonbury dreht sich alles um eine Abtei und einen Turm, den Tor. Doch beginnen wir mit Glastonbury selbst, dessen Entstehung auch schon so viel Mystik birgt; dann gehen uns später die Abtei und der Tor leichter von der Hand.  

Wenn man gebenedeit sein möchte unter den Städten, darf man nicht einfach so aus den Nebeln der Geschichte steigen, da reichen noch nicht einmal die Nebel von Avalon. Besser wäre es schon, wenn man prominente Gründerväter aufweisen könnte. Im Falle von Glastonbury soll Jesus als Kind mit seinem Kumpel Josef von Arimathäa, der später sein Jünger wurde, Glastonbury besucht haben. Darüber weiß zwar die Bibel nichts, aber wer übers Wasser gehen kann, kommt überall hin. Dieser Besuch inspirierte übrigens William Blake zu seinem bereits erwähnten Gedicht Jerusalem („And did those feet in ancient time"). Aber so richtig nachvollziehbar konnte die Erzählung nicht aufbereitet werden, deshalb verlegte man sich später auf die Variante, dass Josef von Arimathäa etwa 40 Jahre nach dem Tod Jesu Glastonbury per Schiff besucht haben soll (dazu kommen wir gleich noch). Und weil es in großen Zeiten guter Brauch war, Land markig in Besitz zu nehmen, rammte er einen Stab in die Erde, aus dem fix der Heilige Dornbusch von Glastonbury, ein Weißdornbusch, austrieb, der gleich zweimal im Jahr blühte, einmal im Frühjahr und einmal zu Weihnachten. Während des englischen Bürgerkriegs (1642-1649) soll ein Soldat den heiligen Busch einfach umgehackt haben, worauf ihn der Herr mit Blindheit belegte. Im 20. Jh. wurde endlich ein Ersatzbusch gepflanzt, was nicht wirklich nötig gewesen wäre, weil es in England vor Weißdornbüschen nur so wimmelt, der aber trotz eifrigen Zuspruchs nicht an Weihnachten blühen will. Dafür wird ihm jedes Jahr zu Weihnachten ein Zweiglein abgezwickt und der Queen geschickt, damit sie ihre Weihnachtstafel mit ihm schmücke.  

Damit wäre mit Glastonbury die Bühne für den Spuk errichtet, der die Stadt fortan umwabern sollte, selbst wenn ihre Existenz erst im 6. Jh. nachgewiesen werden kann, wie jedenfalls die Wissenschaft völlig uninspiriert mutmaßt.  

Es ist also Zeit, sich mit dem Benediktinerkloster von Glastonbury zu beschäftigen, der sagenumrankten Glastonbury Abbey. Von zwei Jüngern Jesu soll es gegründet worden sein – sagen die einen. Den anderen ist sogar diese prominente Gründerschaft der Würde des Ortes nicht angemessen genug. Sie bringen wiederum den soeben als Gründungsvater der Stadt erwähnten Josef von Arimathäa ins Spiel; jetzt allerdings, wie schon soeben angedeutet, ein Lebensalter später. Diesen Knoten hat noch keiner gelöst. Also: Josef soll ja bekanntlich das Blut Jesu aus der Lanzenwunde im Abendmahlkelch des Vortages aufgefangen haben, der auf diese Weise unversehens zum Heiligen Gral wurde (dessen begriffliche Herleitung nicht geklärt ist: okzitanisch grazal, altfranzösisch graal ‚Gefäß', ‚Schüssel', eventuell auch von sang real, ‚Blut des Königs'). Dann soll er Pilatus dazu überredet haben, den Leichnam Jesu in das für ihn selbst bestimmte Felsengrab legen zu dürfen. Nachdem der Leichnam Jesu aber nach drei Tagen plötzlich verschwunden war, soll Josef wegen Leichendiebstahls verhaftet und zu 40 Jahren Haft verurteilt worden sein. Während der Haft war ihm nun Jesus erschienen, übergab ihm den Kelch mit seinem Blut und bestimmte Josef zum Hüter seines Bluts. Und nur wegen der Kraft des Kelches überlebte Josef die Haft, weil ihm jeden Tag eine Taube erschien und ein Stück Brot auf den Kelch legte. Nach der Haft packte der greise Josef seine Siebensachen mitsamt dem Gral und brachte ihn nach Glastonbury, wo er für ihn eine Kapelle errichtete. Und da war sie, die Abbey, eine Kapelle noch, aber den Rest kann man getrost der Zeit und ihren verschlungenen Läuften überlassen.  

Man könnte zum höheren und weiteren Ruhm der Abtei aber auch noch einen überzeugenden weiteren Baustein ins Fundament des Klosters legen. Dieser Baustein wurde im Jahr 1191 gefunden, als Mönche der Abtei angeblich gut zwei Meter unter dem Fundament der Abtei ein Grab fanden. Es handelte sich um einen mächtigen Baumstamm, in dem die Überreste eines großen, starken Mannes lagen und die einer zierlichen Frau mit blondem Haar. Dass es sich dabei um König Arthur und seine Frau Guinevere handeln musste, belegte ein Kreuz, das bei den Überresten gefunden wurde, auf dem gestanden haben soll: "Hic iacet sepultus inclitus rex Arturius in insula Avalonia" (Hier liegt der berühmte König Artus auf der Insel Avalon begraben). Spätere Nachforschungen bestätigen zwar den Fund des Grabes, aber das Kreuz und dass es sich um Arthur und Guinevere handelte, wollte niemand bestätigen. Wie dem auch sei: Der Gral, Avalon und Artus sind seither auf einer Insel der Seligen zusammengeführt, die Glastonbury heißt, und berauschen die Phantasie der nebulös Veranlagten.  

Jetzt fehlt nur noch der Tor. Tor ist ein Wort keltischen Ursprungs, das „konischer Hügel" bedeutet. Aufgrund der strategisch günstigen Lage und der Höhe von 158 Metern, siedelten zeitweise Kelten auf dem Tor, später besetzten Römer den Hügel. Auf der Spitze des Tors steht der restaurierte Turm der Kirche St. Michael's (schon wieder ein Michel!) aus dem 14. Jahrhundert. Die Briten nannten diesen Flecken später anscheinend Ynys yr Afalon, was uns direkt zum Avalon der Artussage bringt. Wer jetzt noch immer Zweifel an den sagenhaften Kräften hat, die in Glastonbury auf uns Menschen wirken, muss eine Dumpfbacke wie der Chronist und seine Begleiterin sein. Womit wir wieder in der Gegenwart angekommen wären.  

Um 12:30 Uhr machen wir uns auf den kaum 15 Minuten dauernden Weg vom Avalon Touring Park in die Stadt. Und dann stehen wir, zweimal um die Ecken gebogen, nahezu schockgeduscht auf dem Market Place in einem Remake von Woodstock, Amsterdam, Soho, San Francisco und Poona, ein geläuterter Althippie und eine square Babyboomerin mit Erleuchtungserfahrung höchstens beim Candle-Light-Dinner. Der unverkennbare und unvergessliche Duft der seligen Entrückung schleicht sich in die Nüstern des Chronisten, was kein Wunder ist, weil man das feine Stöfflein gleich im ersten Laden an der Ecke kaufen kann. Wir halten inne und blicken uns um, vor allem, um sicherzugehen, dass wir nicht in eine Probe für die Wiederauflage der 50th Anniversary Production Tour des Musicals Hair von 2019 gestolpert sind, die vielleicht nach Covid fortgesetzt werden soll. Wir warten jeden Moment darauf, dass das kunterbunte Völkchen auf dem Platz „Aquarius" zu singen beginnt, aber die singen nicht, die tragen einfach nur ihr Bühnen-Outfit spazieren.  

Wir haben gestern auf dem Campingplatz schon einen Vorgeschmack auf das bekommen, was uns heute geboten wird, aber auf eine Zeitreise haben wir uns nicht eingestellt. Unser erster Gedanke, dass die hier alle ein wenig aus der Zeit gefallen und auffällig seien, revidieren wir schleunigst, als wir uns darüber klarwerden, dass wir es sind, die in Glastonbury aus der Zeit gefallen und auffällig sind. Die Zeitmaschine ist nicht uns hinterhergefahren, sondern wir haben sie aufgesucht.  

Hier trägt man noch Blumen im Haar! Frauen von 17 bis 70 tragen Blümchen im Haar, ersatzweise Bänder oder Glasperlen. Wallekleider und Pluderhosen jeglicher Machart sind noch immer der letzte Schrei, darüber Schlabberpullis, Flausch-, Feder- oder Lederzeug, meist mehrere Nummern zu groß, Jesuslatschen oder Gesundheitsschuhe. Andere stehen auf Lumpen- und Fetzenlook, der darauf Wert legt, mehr Löcher als Textil aufzuweisen. Dazu trägt die Dame gerne Dominastiefelchen, allerdings ebenfalls mit Soll- und Aufbruchstellen. Eine andere Klientel bevorzugt schwarze und strenge Existenzialistinnenroben bis zum Knöchel (das verträgt sich sogar mit Blümchen im Haar), andere verkleiden sich als Engelchen mit bunten Spitzen-Tutus, die wenig mehr als nichts verbergen.  

Etwas schwieriger ist die Einschätzung der Männermode, weil Männer auch vor den Toren von Glastonbury gerne auf jedweden Anspruch verzichten; soll heißen: schlampig, abgerissen und dreckig ist kein Privileg der Männerwelt von Avalon. Und so findet man den gesamten denkbaren Lebenszyklus einer Jeans in Glastonbury. Dasselbe gilt für T-Shirts, die jedoch mit auffällig vielen Ketten und Lederzeug zudrapiert werden, sodass man den aktuellen Zustand des Hemds nur erahnen kann, und auch der ganze Rest des Manns verbirgt sich hinter Männergeschmeide. Auch unten herum ist von Latschen über Sandalen bis zum Landsknechtsstiefel alles erlaubt, Voraussetzung abgelatscht und durchgetreten. Der männliche Haarschmuck kennt eigentlich nur zwei Varianten: viel, füllig, verfilzt und verzopft oder Glatze. Beide Varianten vertragen sich mit Hut.  

Eine besondere Variante der Männermode ist das kunterbunte Beinkleid, entweder als Tight getragen oder locker wie ein Zweimannzelt. Die Farbzusammenstellung darf auch das Auge schmerzen. Am lustigsten sind die Strumpfhosen in Giftgrün, Kanariengelb oder Bonbonrosa, gerne auch ein Bein so, das andere so, die man vorzugsweise unter kurzen Hosen trägt. So etwas mussten zu den Zeiten Arthurs und seiner Nachfahren die Hofnarren tragen.  

Das männlichste am Mann ist selbstverständlich der Bart, dessen kulturelles Erbe in den Straßen von Glastonbury in besonderer Weise gepflegt wird. Dominant vertreten sind der verfilzte Wikingerbart und der brusttiefe Kinnzopf. Bei den Rentnern, die hier mit ihren Rentenbräuten in Vollleder auf ihren Harleys hocken, ist der amerikanische General-Custer-Gedächtnis-Bart besonders beliebt: gezwierbelter Schnäuzer mit Spitzbart. Diese sind allerdings säuberlichst gepflegt und getrimmt. Daneben versammeln sich aber auch unerwartet viele jener Mopedfahrer mit den rundum bestickten und befransten Kutten. Sie schließen haarmodisch den Kreis zur Mehrheitsgesellschaft: Die Bräute gerne mit wuschelig toupiertem Blondhaar und die Jungs suchen Anschluss an die Wikinger- und Alp-Öhi-Bärte.  

Selbstverständlich wird in den Straßen und Gassen der Stadt alles verkauft und unter der Hand gehandelt, was der Aura und dem Seelenheil von Hippies, Spiritisten, Esoterikern, Sannyassins, Druiden und Hexen zuarbeitet: Rauch- und Räucherware, Duftwässerchen, Henna, Glasperlen, Schlagwerk und Trommelzeug, Pfeifen, Flöten und Zimbeln und sogar die einzige Seife weltweit, mit der man seine Aura reinigen kann. Wer mit seiner Aura endlich im Reinen ist, und sich nun wieder mehr zum Stofflichen als zum Feinstofflichen hingezogen fühlt, kann sein Liebesleben mit tantrischen Keksen einen neuen Kick geben oder den Leerraum zwischen Diesseits (Hunger) und Jenseits (Erfüllung) mit veganen Süßwaren in Form von Karmapäckchen füllen. Ungesunde Kleinbürgerkost findet man hier nicht, dafür viel Falafel, Kichererbsenpaste (Hummus) statt Pasties, Essoterik statt Esserotik... Sonne, Mond und Sterne. Und wer sein Gewissen und Seelenheil nicht allzu sehr überstrapazieren möchte, kauft sich seinen Kaffee in Styroporbechern bei Starbucks. So kleinlich wird die Glastonbury Goddess, die von nebenan aus ihrem Tempel heraus alles genauestens registriert, schon nicht sein.  

Wir schlendern umvolkt und umwölkt die High Street (sic!) hoch, werfen einen Blick in die St John the Baptist's Church, die keinen Blick wert ist, und begegnen, wieder draußen auf dem begrünten Vorplatz der Kirche, Mutter Erde, die aus- und einladend an der Kirchenmauer döst. Diese fleischgewordene und schon reichlich in die Jahre gekommene Goddess trägt blassrosa Pluderhosen und eine vielfarbige Flauschfederjacke, die ihr bis zu den Knien, aber nicht über die Brust reicht. Die trägt sie offen, massig, fleischig und schwer auf ihrem Bauch, auf Dürstende wartend, um sie zu laben. Wer weiß, wie viele sie sich schon inbrünstig zur Brust genommen hat? Die Last der vielen Monde, die sie zählte, könnten bis zu Romulus und Remus führen. Da sitzt sie, wie die Venus von Willenburg, die auch nur aus Brust besteht, ruht an der Wand und in sich und signalisiert den Magermilchjogis in ihrem Garten, dass auch sie noch nicht verloren sind. Ein Gnadenzug von ihrer Brust, so ist die Botschaft, macht verweichlichte Hungerhaken reif für die Tafelrunde. Liebe Verfolger, wenn euch nun die Phantasie für diese Erdenmutter fehlt, müsst ihr damit leider sterben, denn den Griff zur Kamera unterbindet die Begleiterin mit einem ruppigen „Untersteh dich!" So bleibt die fleischgewordene Mutter Erde, trotz vieler Worte, weiterhin der reinen Vorstellungskraft vorbehalten.  

Wir schreiten fürderhin, durch Yin und Yang und Sang und Klang; unser Weg führt uns hinauf zum Tor, über mythische ins Gras gemähte Kreise und vorbei an singenden und trommelnden Wallefrauen. Steil führt er hoch zum Turm – dem Gläubigen wird Demut abverlangt. Und Schweiß. Schütter verteilte Grüppchen spüren nach der Kraft des Feldes, einer liegt bäuchlings mit zum Kreuz gebreiteten Armen wie ein Mönch bei der Profess. Ob er die Schwingung spürt? Vielleicht ruht unter ihm das versteinerte Ei von Urmele aus dem Eis und füllt ihn mit der Kraft des Drachentöters Michael? Der Chronist will`s genau wissen und fragt seine getreue Begleiterin, ob sie denn etwas spüre? Ihre Antwort mit gekreuzten Beinen: "Ja, ganz arg, meine Blase." Da ist nichts zu machen, weder, was die Blase angeht, noch was die Erleuchtung betrifft. No dope, no hope.  

Im Fuß des Turms steht ein älterer Herr und spielt auf der Querflöte sehr ansprechend keltisches Liedgut, das von dem Raum hinaus und über den Hügel getragen wird. Als er endet, begibt er sich aus dem Turm hinaus zu seiner Frau, lehnt sich an die warme Mauer – und sie putzt ihm die Flöte. Hat wohl nicht geklappt mit der Erneuerung und Erleuchtung.  

Wir gehen zurück und verweigern einen Besuch bei König Arthur in seiner Abtei, für dessen Hokuspokus wir keine 20 £ zusammen bezahlen wollen. Als wir wieder am Market Place angekommen sind, wuchten gerade einige stämmige Kerle, angetrieben und angeleitet von einem Druiden, einen Stamm in die Luft. Wildes Männergebrüll erfüllt die Luft, und dann wird der Stamm über den Häuptern der Stammhalter, unter dem Hinweis, dass man sich morgen am 1. Mai hier wiedersehe, fortgetragen.  

Drei Stunden und acht Kilometer liefern genug Zeit und Raum, um das Erlebnis Glastonbury einzuordnen. Auffällig ist, dass sich das sonst so gelöste Urlaubsgesicht der Begleiterin zunehmend verhärtete. Für sie ist das eine Anderwelt, für die sie keine Rezeptoren entwickeln konnte. In den weichen Sofalandschaften zwischen 68er-Revolution und Vietnamprotesten einerseits und Kein-Bock-auf-gar-nichts-Punk, bestand ihre Welt aus Disco, Plateauschuhen, Popperlocken und den Waltons. Diese sofagepolsterte Babyboomer-Generation kaufte sich nicht, wie der Chronist, vom ersten selbstverdienten Geld ein sündteures UHER-Royal-Deluxe Tonbandgerät, was die Mutter fast zum Sprung aus dem Fenster veranlasst hatte, nein, diese Generation legte ihr erstes Geld in Bausparer und Lebensversicherung an. Hair und Hippies waren längst Geschichte, und so fuhr man mit den Ärmel-Aufkrempeln-Zupacken-Aufbauen-Bemühungen der Eltern- und Großelterngeneration fort, weil man nicht so werden wollte wie jene, die mit 35 immer noch Hare-Krishna im Stadtpark sangen.  

In dieser Welt war Transzendieren keine Option; transpirieren vom Schaffe-Schaffe war vor allem in der schwäbischen Welt der Reiseleiterin das einzig gültige Credo. Und nun steht sie hier und wird mit all dem konfrontiert, von dem sie bisher nur gehört und in Filmen gesehen hat. Aber dass diese Menschen real existieren, die Duftwolken aus den Läden, die Jesuslatschen, die zerrissenen Strumpfhosen, all die Blümchen in den Haaren, die entrückten Gesichter, das Getrommel und Gepfeife, dass das keine Märchen aus den Paramount-Studios sind, sondern Gegenwart in Jahr 2022, das muss sie erst noch verarbeiten.  

Doch darin unterscheidet sie sich nicht vom Chronisten. Er, der den ganzen Zauber einst mit Herz und aus voller Seele und Überzeugung gelebt hat, fällt die geschichtliche Ein- und Zuordnung leicht, auch wundert er sich nicht über seltsame Gestalten und ihre Rituale, nicht deren esoterisch niedrige Flughöhe und auch nicht über die ahnungslose Hingabe an rituelle Versatzstücke wie etwa Yin und Yang, sondern er fragt sich, welche Menschen das heute noch leben. Für die jungen Leute ist die Antwort schnell gegeben: Wer jung ist lässt sich von vielem schnell begeistern und hinreißen. Das soll auch so sein und findet meist einen recht schnellen Weg in eine andere Begeisterung.  

Doch wie steht es mit all den anderen? Haben wir es etwa mit Menschen zu tun, die ein Arbeits- und Familienleben voller Enttäuschungen gelebt haben und nun glauben, am Ende des Lebens doch noch das große Glück einfangen zu können? Die Jugend nachholen, Versäumtes restaurieren? Wir spüren selbst, dass uns ein Leben in der Konfektionswelt keinen Weg mehr in die Vergangenheit eröffnet. Einmal auf dem Weg zurück fragt der Chronist, nachdem er sich schon einmal eine Absage mit der Blase eingefangen hat, ob die Begleiterin denn jetzt vielleicht doch irgendwie, irgendwann irgendein Kraftzentrum, von denen es ja nur so wimmeln soll, gespürt habe. Sie scheint noch nicht mal den Gehalt der Frage zu spüren, geschweige denn irgendetwas anderes. Allerdings ist auch ihm nichts Spürbares unter die Haut gefahren (wenn man von Mutter Erde absieht). Das alles beherrschende Kraftzentrum des jahrzehntelangen Manchester-Kapitalismus neuer Prägung hat uns für die Schwingungen von Feenfüßchen und in die Erde gerammte Druidenstecken unempfindlich gemacht. Wir glauben nicht, dass andere sich aus dieser Kraft befreien können, um zu dem zu finden, was sie sich erhoffen. Wie sagt der Lateiner so zutreffend: Hic Rhodos, hic salta! Wer nicht zu gegebener Zeit springt, muss es später gar nicht mehr versuchen. Der Chronist ist hineingesprungen und zu gegebener Zeit wieder herausgesprungen, hat alles zu gegebener Zeit gemacht. Damit kann man leben, ohne sich Versäumnisse vorwerfen zu müssen.  

Noch tiefer ins Verständnisloch stürzen ihn jene, die seit 50 Jahre nicht aufgehört haben, nach einer unbestimmten Erleuchtung zu suchen und nicht glauben wollen, dass sie ihnen im verbleibenden Leben vermutlich auch nicht mehr zuteilwerden wird. Was soll sich nach all den Jahren noch ändern? Wir haben es hier mit Menschen zu tun, die vor über 50 Jahren mit Bob Dylan und den Byrds am Lagerfeuer gesungen haben: To everything (turn, turn, turn) / There is a season (turn, turn, turn) / And a time to every purpose, under heaven. / A time to be born, a time to die / A time to plant, a time to reap / A time to kill, a time to heal / a time to laugh, a time to weep... Aber sie haben ihrem Bob nicht wirklich zugehört, sondern nur laut mitgesungen, sonst wüssten sie, dass es keinen Sinn macht, die Dinge außerhalb der für sie vorgegebenen Zeit zu tun. Vielleicht hätten sie den Inhalt verstanden, wenn sie den deutschen Text im Alten Testament bei den Predigern nachgelesen hätten. Vielleicht auch nicht. Der Chronist hat dieses Leben mit 18 gelebt und es keine Sekunde seines Lebens bereut. Die grauen Eminenzen hier sind 70 und jagen noch immer einer verlorenen Zeit hinterher. Doch diese Überreste einer besonderen und besonders wichtigen Zeit haben sich selbst überlebt. Die Zeiten kommen nicht wieder, wie keine Zeit wiederkehrt, selbst wenn man in Glastonbury auf dem Tor ein Pfeifchen raucht. Die Zeit dieser Menschen ist eingerostet und ihr Mantra klingt nach einer Schallplatte mit Kratzer: Hare Kri- Hare- Kri- Hare Kri ...  

Der Chronist nimmt seine Begleiterin in den Arm und findet, dass es gut war, wie es war, sonst würde er vielleicht heute auch hier sitzen und aus Silberdraht Freundschaftsschmuck drehen. Dieses Kraftfeld spürt nun auch die Begleiterin, ganz ohne Weihrauch und Sandelholz.  

Bei Kaffee und Kuchen entspannen sich die Gesichtszüge der Reiseleitung wieder komplett, allerdings findet sie, den klebrigen Spiritismus des Tages nur dadurch ganz loszuwerden, dass sie alle unsere Küchenschränke ausräumt uns putzt. Diese Seelenreinigung schreit förmlich nach einer Wiederholung morgen...  

Wir kaufen uns im Camping-Shop Burger und Würstchen und werfen sie abends auf den Grill, dazu gibt es Nudelsalat. Am Rand des Lotusgrills stecken jedoch keine Räucherstäbchen und auch kein Weihrauch liegt neben den Würstchen auf dem Grill. Aber ein paar Hausnummern weiter gestaltet man für morgen eine Blumenhaube, die schwerer und größer ist als der Schmuck einer Kuh beim Almabtrieb. Heut ist Walpurgisnacht, da machen sich die Hexen fein.  

Wir fühlen uns jetzt bestens unterhalten, obwohl der Chronist gerne nachschauen würde, ob die Damen einen Besen zwischen den Beinen haben. Aber als er sich bis 23 Uhr noch immer nicht zu fragen getraute und ins Bett geht, sind auch sie schon alle eingerückt. Oder ausgerückt? Bei 9 °C und Windstille ist heute bestes Flugwetter.  

Als der Chronist noch vor dem Einschlafen versucht, eine erste Ordnung in diesen wilden Haufen von Eindrücken zu bekommen, landet auch er ganz unabsichtlich bei einem Mantra, das ihn bis in den Schlaf hinein nimmer loslässt: Sakra, so viel Chakra! Sakra, so viel Chakra...  

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