Der Bairische Blues fährt ins Blaue - und ist dann mal weg

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Dungeness / Brookland

Woolpack Inn in Brookland

Mittwoch, 13.4.2022

Der Regen war nur eine Episode ohne dokumentarischen Anspruch. Morgens ist der Himmel wieder blau, und es besteht kein Anlass, matschigen Rasen durchpflügen zu müssen. Die Hunde bekommen einen langen Spaziergang zum Strand, der ihnen sogar schon einen ersten Blick auf England beschert, nur dass sie dafür keinerlei Antennen haben. Das Hier und Jetzt ist es, was sie begeistert, nicht das Morgen und Irgendwann.  

Um 10 Uhr machen wir Frühstück bei weiß-blauen 14 °C und bereiten uns anschließend langsam zum Sprung über den Kanal vor, der mehr ist als eine eher unbedeutende Wasserstraße, sondern zwei Welten zu trennen scheint, hier Europa, dort ein zerstrittenes Königreich, das mit sich selbst im Clinch liegt.  

Wir fahren heute mit der Bahn nach England, die um 15:40 Uhr abfährt und uns ab 12 Uhr zum Check-In einlädt. Genug Zeit also, die wenigen Kilometer zu überbrücken und unsere Entscheidung für Le Shuttle darzulegen.  

Vor drei Jahren, als wir Schottland besuchten, nahmen wir die Fähre von P&O. P&O Ferries fährt aber derzeit nicht. Das Unternehmen hatte in den letzten Jahren durchwegs 100 Millionen Pfund Minus gemacht, weshalb seine Eigentümer, das Herrscherhaus von Dubai, weitere Geldspritzen von drastischen Kostenreduzierungen abhängig machten. Mitte März kündigte das Unternehmen daraufhin allen 800 (teuren) Besatzungsmitgliedern von einem auf den anderen Tag, um die weniger kostenintensiven weiteren 2.200 Arbeitsplätze zu sichern. Die gekündigten Besatzungsmitglieder wurden durch indische Billiglöhner und Zeitarbeiter ersetzt. Die britische Regierung legte daraufhin die Schiffe wegen mangelnder Verkehrssicherheit fest. Da liegen sie jetzt immer noch, obwohl P&O angekündigt hatte, ab 31. März wieder zu fahren.  

Der Fährbetrieb über den Kanal wird also zurzeit ausschließlich von DFDS gestemmt. Wer schon mal erlebt hat, welcher Betrieb in Calais und Dover an normalen Tagen bei zwei Carriern herrscht, kann sich ungefähr ausmalen, wie es dort derzeit zugehen muss. Im Internet liest man von zwei bis drei Stunden Wartezeit am Check-In, drangsalierende Zollkontrollen und Chaos. Was davon wahr ist, wissen wir nicht. Da wir aber bezüglich der Wahrheitsfindung nicht zu Selbstversuchen neigen, haben wir uns für die andere Variante entschieden und den Zug gebucht, zumal seit dem P&O-Ausfall stündlich vier Züge in beide Richtungen fahren. Le Shuttle ist zwar etwas teurer, aber, nach allen Informationen, mit bestens organisierten Abläufen. Wer früh genug vor Ort ist, kann auch darauf hoffen, früher transportiert zu werden als gebucht.  

So verlassen wir also Camping Les Erables um 12:25 Uhr bei bedeckten 15 °C und stehen schon zehn Minuten später in Coquelles, dem französischen Bahnhof in den Eurotunnel, nahe Calais. Die ersten Wegweiser führen uns zur Pet Reception, wo wir unsere Mädels registrieren lassen müssen. Gelbe Wegweiser weisen uns unmissverständlich den Weg. Die nette Dame in der Registrierung schaut sich unsere Mädels und deren Impfpässe, einschließlich des neuen Wurm-Eintrags an, prüft die Chipnummern und entlässt uns mit zwei Zetteln, die an die Windschutzscheibe geklebt und an den Innenspiegel gehängt werden müssen, worauf dokumentiert ist, dass wir ordnungsgemäß zwei Hunde, aber keine Katzen, Pferde oder Frettchen an Bord haben.  

Um 12:45 Uhr bereits stehen wir am Check-In, wo unser weiteres Schicksal bezüglich der Einreise nach England beschieden wird. Wir bekommen einen Abfahrttermin um 15:20 Uhr, also 90 Minuten früher als gebucht. Sollten wir eine noch frühere Abfahrt wünschen, wäre das gegen eine kleine Gebühr von 120 € ebenfalls noch möglich. Nein, das wollen wir nicht. Daraufhin bezahlen wir 245 € für den Franz und uns sowie weitere 54 € für die Vierläufigen, die zwar ebenfalls mit uns im Franz transportiert werden, aber möglicherweise wegen der doppelten Anzahl von Beinen extra berechnet werden. Insgesamt kostet uns die Überfahr demnach 299 €. Das ist zwar mehr als auf der Fähre, aber gemessen an der bisher sehr geschmeidigen Abwicklung gut angelegtes Geld. Allerdings gilt auch beim Shuttle: Der Preis hängt vom Buchungszeitpunkt ab; je später, desto teurer.  

Mit einer Bordingnummer, in unserem Fall Y3, ausgestattet rollen wir nun in den Wartebereich für Wohnmobile, Caravans und Busse. Auch der ist bestens ausgeschildert, sodass man ihn nicht verfehlen kann. Wir stehen dort fast allein, und riesige Displays informieren, wann man zum Boarding geladen wird; unser Aufruf ist für 14:15 Uhr vorgesehen.  

Da wir nichts zu tun, aber eineinhalb Stunden Zeit haben, machen wir erst einmal den Franz sauber, schütteln ihm das Salz und den Sand aus den Eingeweiden, bürsten die Auslegeware, so gut es eben geht und wienern hier ein bisschen und da ein wenig, schließlich wollen wir bei den Insulanern keinen schlamipgen ersten Eindruck hinterlassen.  

Danach streifen wir durch den Duty-Free-Shop. Wir kaufen eine Flasche feinen Gin, zwei Flaschen Wein und ein Fläschchen Parfüm für die Navigatorin und bezahlen 92 €. Der Chronist blickt verwundert ob des stolzen Preises, da aber die Einkäuferin keinerlei Schmerzmimik zu erkennen gibt, geht er davon aus, dass das alles seine Richtigkeit hat. Erst im Franz weist er die Reisebegleiterin auf den üppigen Preis hin, was sie, die geborene und leibhaftige Schwäbin, kaum glauben will, vor allem, weil er ihr scheinbar komplett unter dem Preiswarn-Radar durchlief, was ihr nie passiert. Doch nun, offenbar in offenkundiger Vorfreude auf die Insel mit vorgezogenem Tunnelblick, hat sie diesen auf das Preisschild unter dem entnommenen Fläschchen gerichtet und sich täuschen lassen, dort hatte sie ein Preisschild über 21 € im Blick, das aber nicht für ihres galt. Für 51 € hätte sie das Duftwässerchen nie gekauft. Doch nun ist es an Bord, ein wenig anrüchig zwar und am Gewissen der Reisebegleiterin nagend, was jedoch der Gruppendynamik eher nicht schaden wird. Allerdings hätten wir uns für den Preis dieses Duty-Free-Stopps schon fast eine sehr viel frühere Abreisezeit leisten können, was den Einkehrschwung möglicherweise verhindert hätte. Wir heben auf diesen Faux-Pas ein Tässchen Kaffee und schmausen zwei knusprige französische Schweineohren dazu, was die anrüchige Schweinerei in Vergessenheit geraten lässt.  

Um 14:15 Uhr wird Y3 aufgerufen, und wir rollen zur Abfertigung. Auch jetzt ist alles perfekt organisiert, verfahren kann man sich trotz der riesigen Anlage mit den tausend Spuren und Kreisel, die den Verkehr auch an starken Tagen kanalisieren sollen, nicht. Von nun an läuft alles wie in einem Film ab.  

1. Bild: Die französische Grenzkontrolle, die sich für uns nicht interessiert, noch nicht einmal durchwinkt, sondern einfach vorbeirollen lässt.  

2. Bild: Die britische Grenzkontrolle: Dort werden unsere Pässe geprüft, freundlich, immer mit einem Bonmot auf den Lippen. Und ohne Vorwarnung singt er: „Mein Head, der hat drei Ecken, drei Ecken hat mein Head..." und strahlt wie ein Königstiger. Wir strahlen zurück und korrigieren ihn sanft, dass es „hat", also „Hut" heißen müsse, worauf er wieder anstimmt: „Mein Hut der hat drei Ecken.., sorry I don't cover the rest". Wir lachen gemeinsam herzlich und entspannt, liften symbolisch unseren imaginären Hut ohne Ecken, er schickt uns noch ein „Welcome to Great Britain" herüber und bittet uns, wir mögen uns hinter dem vor uns stehenden französischen PKW zur Zollkontrolle anstellen.  

3. Bild: Die Zollkontrolle. Die Franzosen vor uns sehen ein wenig maghrebinisch aus, und weil Briten keinerlei rassistischen Vorbehalte haben, räumen sie deren PKW aus, führen Drogenspürhunde um ihn herum und sichern diese amtliche Maßnahme gleich mit vier schwer bewaffneten Damen und Herren ab. Wir stehen dahinter und haben kein gutes Gefühl bei der Vorstellung, den Franz einmal umstülpen und zwei Hovawarte von zwei Malinois trennen zu müssen. Als der Wagen offenbar unverdächtig ist, lassen die Grenzer von ihm ab und winken ihn weiter.
Jetzt sind wir dran. Die Waffenträger und auch die mit den Hunden verschwinden in ihren Autos, plaudern, würdigen uns keines Blickes, als wir langsam an ihnen vorbeirollen. Die wollen nichts von uns. Es hat durchaus Vorteile, wenn man nicht maghrebinisch aussieht.

4. Bild: Die Gaskontrolle. Nur wenige Meter weiter wartet in einem Häuschen ein junger, etwas schüchterner junger Mann, der sich schon bevor wir neben ihm stehen, dreimal entschuldigt, dass er überprüfen müsse, ob wir unsere Gasflaschen abgedreht hätten. Haben wir, erklären wir, weil man sich ja vorher informiert hat, was zu erwarten ist. Das sei ganz großartig, strahlt er, aber leider sei er verpflichtet, dies mit eigenen Augen zu prüfen. Also packen wir unsere Kisten aus, die vor dem Gasfach stehen, der nette Jungbeamte lässt es sich nicht nehmen, sich weiterhin ohne Ende zu entschuldigen, während er die Sperrventile unserer Flaschen prüft. Alles wunderbar und „Welcome to Great Britain" und „Sorry for the inconvenience", er strahlt, wir auch und fahren davon, auf die Wartespur, die er uns gezeigt hat.  

5. Bild: Warteposition und Boarding. Es sind nur wenige Autos vor uns. Heute ist ein erkennbar schwacher Verkehrstag. Dann springt die Ampel auf Grün und wir rollen zu den Wagons, die uns nach England expedieren sollen. Vermutlich fragen sich alle, wie auch wir, wie sich die Einfahrt in diese Wagons gestaltet. Man fährt schlicht von der Seite ein. Durch ein weites Tor fährt man von der Rampe eben in den Wagon und rollt dann so weit nach vorne, bis man von einem Mitarbeiter gestoppt wird. Die Wagons haben den Wellblechcharme der amerikanischen Greyhound-Busse, sind 4,10 m breit, sodass der Franz auch seine Ohren nicht anlegen muss. Dann stehen wir ganz vorne im Wagon Nr. 4 und sind fertig zum Abtauchen. Wenn man diese Verladung mit dem Gewürge auf den Fähren vergleicht, manchmal mit Knicks auf die Rampe, dass das Heck aufsetzt, und das Gedränge in den Bäuchen, ist das hier der Himmel unter Wasser. Hunde müssen zudem auf der Fähre im Auto gelassen werden, im Zug fahren sie mit uns gemeinsam; auch nicht zu unterschätzen.  

6. Bild: Franz, the Dirty Submarine. Pünktlich um 15:20 Uhr rollen wir los. Vor uns liegen rund 50 km bis Folkstone, davon 37 km unter Wasser, durchschnittlich etwa 40 m, an der tiefsten Stelle 75 m unter dem Meeresgrund. Mit einer Geschwindigkeit von bis zu 160 km/h rollen wir nun England entgegen und fühlen uns wie in einer Sänfte, so sanft geht es dahin, nur Hedda macht einen etwas mulmigen Eindruck, weil das etwas ist, was sie noch nie erlebt hat: Es rollt, aber man sieht nichts und kann sich nicht orientieren. Fianna ist das schnurz, sie schläft immer und überall, so auch jetzt auf ihrem Fahrplatz, der üblicherweise der Essplatz des Chauffeurs ist.  

Die Tiefe spürt man ein wenig auf den Ohren, das Tempo überhaupt nicht und für die ganz Geschäftigen ist während der gesamten Fahrzeug ein erstklassiges WiFi verfügbar. Schneller und bequemer kommt man nicht über den Kanal. Vor allem Leute mit Neigung zur Seekrankheit werden diesen, jedem Unwetter trotzenden Zug durch den Tunnel sous la Manche, wie ihn die Franzosen nennen oder auch den englischen Chunnel zu schätzen wissen.  

7.Bild: Zeitreise. Als wir wieder ans Tageslicht kommen, haben wir nicht nur eine herrlich entspannte Über- bzw. Unterfahrt, sondern gleichzeitig noch eine Zeitreise hinter uns, denn in England ist es jetzt 14:45 Uhr, was bedeutet, dass wir unser Ziel 35 Minuten vor Abfahrt erreichen. Um 14:52 Uhr rollen wir genauso geschmeidig aus dem Zug, wie wir ihn bestiegen haben.  

Jetzt also nach Frankreich, Spanien, Portugal und wieder Frankreich: England. Und Linksverkehr! Davor scheuen viele Leute zurück. Wir haben schon in Schottland damit Erfahrungen gemacht und sehen den nächsten Wochen gelassen entgegen. Natürlich muss man sich an das neue Gefühl erst gewöhnen, vor allem im Kreisverkehr droht der Kreiselkompass gelegentlich durchzudrehen, aber das sind nur Momentaufnahmen. Man fährt hinter den anderen her, hält sich ein wenig zurück, was mit einem Wohnmobil sowieso nicht schwer ist und lässt sich nicht verrückt machen. Wichtig ist allerdings ein gutes Navi und eine erfahrene Navigatorin, denn wenn man unter diesen Bedingungen nicht genau weiß, wohin es geht, sondern zu suchen anfängt, wird es knifflig.  

Die beste Navigatorin aller Zeiten hat als unser erstes Ziel in England Dungeness (Kent) ausgemacht. Was sie nicht in ihre Planung einbezog, sind die elend engen und lausigen Straßen dorthin. Es macht einen Unterschied, ob man sich schon einige Tage an die Verkehrsbedingungen gewöhnen konnte oder gerade erst dabei ist, sich zu akklimatisieren. Wir rumpeln durch Straßen, die so eng sind, dass der Chauffeur den Franz fast auf die Böschung hebeln muss, um an den LKWs und denen, die nicht wissen, wie breit ihr Fahrzeug ist, vorbeizukommen. Wenn man es dann noch mit ununterbrochenem Gegenverkehr zu tun hat, greift das unsere Nerven und die Außenhaut unseres leidgeprüften Franz ziemlich an. Noch bevor wir unser Ziel erreichen, ist die Stimmungslage im Franz angespannt.  

Aber um 15:45 Uhr sind wir in Dungeness und stellen den Franz an der Seite eines Fahrwegs ab, weil er sonst nirgendwo Platz findet [N 50° 54' 59,5'' € 000° 58' 37,7'']. Vor uns liegt der größte Kieselstrand und die einzige Kieswüste Europas. Das Gebiet gehört zur Romney Marsh, einem 260 km2 großen Gebiet im Süden Englands, das in vieler Hinsicht, sowohl was die Tier- und Pflanzenwelt angeht, aber auch aus geomorphologischer Sicht von besonderer Bedeutung ist. Bis zum Strand sind es leicht und locker 500 Meter Kies und Geröll, und auch links und rechts gibt es außer einigen Fischerbooten nichts als Kies, Kies und nochmal Kies.  

Wir nehmen die Mädels mit zum Strand, die heute Morgen den letzten, wenn auch ausgedehnten Ausgang hatten. Hier geht man nicht, hier rollt und eiert man, manchmal mehr rückwärts als vorwärts, was den Chauffeur hoffen lässt, dass das nicht die Bewegungsmotto der nächsten Wochen sein möge. Heute jedenfalls legt ihm seine Stimmung dieses Szenario nahe.  

Doch schnell erhellt sich sein Gesicht, und seine Stimmung erlebt den ersten Lichtschein nach dem Verlassen des Chunnels: Delphine. Nahe am Ufer tummeln sie sich und scheinen uns willkommen heißen zu wollen. Wir interpretieren ihre ausgelassenen Wasserspiele einfach auf diese uns angenehme Weise und nehmen sie als Geschenk und gutes Omen gerne an.  

Was uns jedoch etwas befremdet, sind die Briten, die sich neben dem Leuchtturm und vor dem dahinter liegende Atomkraftwerk zum Fotoshooting aufbauen. Urlaubsgrüße nicht mit Delphin oder Kiesstrand, sondern mit Atomkraftwerk als Hintergrund? Vielleicht ist doch etwas an der Geschichte dran, dass die Insulaner alle einen an der Waffel haben. Wir werden versuchen, dieser These in den nächsten Wochen auf den Grund zu gehen.  

Um 17 Uhr fahren wir weiter, der Himmel ist weiß-blau bei 15 °C.  

Eine knappe halbe Stunde rumpeln wir noch unter kaum angenehmeren Umständen zu unserer heutigen Endstation: Das Woolpack Inn in Brookland [N 50° 59' 07,8'' E 000° 49' 01,8'']. Hier werden wir heute die Nacht verbringen.  

In UK kann man auf den Parkplätzen vieler Inns und Pubs kostenlos übernachten, wobei es selbstverständlich sein sollte, dass man dabei den Wirt nicht verhungern lässt. Das Woolpack Inn ist noch geschlossen, macht aber schon von außen den Eindruck, dass wir es kaum erwarten können, unsere erste Pub-Erfahrung heute hier zu machen. Über 600 Jahre hat es bereits auf dem Buckel und vermittelt eben diesen Eindruck, wie man es sich von solchen Häusern erwartet. Als wir um 19 Uhr die Gute Stube betreten, warnt uns ein Schild über der Tür „Mind your head please". Das gehört zwar hierzulande zum guten Ton und findet sich fast an jeder Tür, aber über dieser Tür ist es definitiv angebracht; es empfiehlt sich den Kopf einzuziehen. Die Decke im Gastraum ist auch nicht viel höher, was, zusammen mit dem alten, dunklen Holz der Einrichtung, ein heimeliges Gefühl vermittelt.  

Die Wirtin, so eine proper-pummelige mit einem offenen Lachen, begrüßt uns herzlich und heißt uns willkommen. Wir lassen uns gleich auf der langen Bank rechts vom Eingang nieder und blicken uns um: Alles very British hier, aber was sollte es denn sonst sein. Die Frage nach den Getränken wird folgendermaßen aufgelöst: Der Chronist bestellt sich ein Pint Dunkles, die Reisebegleiterin eine Flasche Wein, den Rest könne sie ja mit ins Auto nehmen, empfiehlt die Wirtin. Auch die Speisekarte ist sehr landestypisch, was sonst, deswegen sind wir ja hier. Aber, so meint die Wirtin, sie hätte auch noch etwas noch very Britisheres, das nicht auf der Karte steht, nämlich Hühnchen in Pastete, entweder mit Mash (Kartoffelbrei) oder Chips. Wir bestellen very britishes Huhn in Pastete, das nach zehn Minuten mit den bekannten ungewürzten Erbsen, Karotten und Wirsing serviert wird. Der Chronist bekommt es mit Mash, die Reiseleiterin mit Chips.  

Während wir dieses sehr britische Hühnchen in seinem Teigmantel mit Genuss verspeisen, sehen wir uns um, was zur Folge hat, dass man sofort angesprochen wird. Engländer sind kommunikativ, und so plaudern wir schon bald mit einem Gast, der sich gerade im Aufbruch befindet und deswegen neben uns steht, was sein junger Foxlschnauzer so berauschend findet, dass er sofort mit uns Kontakt sucht; der Duft unserer Mädels betört ihn. Und schon weiß sein Herr, woher wir kommen, was wir gemacht haben und noch vorhaben, man fachsimpelt über Hunde und kommt vom Hundertsten ins Tausendste. Er hat es auch nicht mehr eilig und wir konversieren mit kauenden Mäulern, wahrscheinlich nur, damit er der Meinung sein soll, er versteht uns wegen der vollen Münder nicht so recht.  

Als er sich dann doch auf den Heimweg macht, suchen die Drei neben uns auf der Bank Gesprächskontakt. Und das ist nun eine richtig schrullige Gesellschaft.  

Die Dame, die drei Plätze links neben dem Chronisten auf der Bank sitzt und in regelmäßigen Abständen zum Rauchen rausgeht, ist eher beschreibungsresistent, im besten frühen Mittelalter, blondes Langhaar zum Schwanz gerafft, dezent geblümtes, knielanges Kleid, irgendwo zwischen Kittelschürze und Nachthemd einzuordnen; optische Massenware eben zwischen attraktiv und belanglos und auch sonst nicht das Herzstück der Dreiergesellschaft. Außer durch ihre häufigen Gänge an die frische Luft, besticht sie vorwiegend durch ihren Kaffeekonsum, der im übrigen für alle drei gilt, nur gelegentlich von einem Kaltgetränk unterbrochen. An die blonde Blümchenschürze muss man sich nicht erinnern.

Ihr gegenüber, am Ende der Navigatorinnenbank, sitzt „The Voice". An die muss man sich erinnern. Als wir uns zu Beginn unseres Aufenthalts noch wesentlich mit dem Interieur und der Speisekarte beschäftigten, war es nur die knarzige Stimme dieses alten Mannes, die seine Anwesenheit belegte, im kehligen Timbre auf mindestens 70 zu schätzen, brüchig und rau. Doch nun, bei näherer Betrachtung, ist der Mann kaum mehr als 40 Jahre alt und sieht aus wie der in die Jahre gekommene Alfred E. Neumann mit strähnigen und widerborstigen Aschhaaren und abstehenden Ohren, die eine dicke Hornbrille tragen. Wenn „The Voice" spricht, tut sie das mit verhaltenem Fauchen durch lückenhafte, schiefe Zähnen hindurch. Wie, so fragen wir uns, kommt man zu einer solchen Stimme, wenn man kein Untoter ist?  

Neben ihm, zwei Hüftbreiten weg von der Reisebegleiterin, thront „Prinzessin Anne", so jedenfalls erscheint sie vor unserem Auge. Auch sie dürfte etwa Ende Dreißig sein, könnte aber aus einer modischen Zeitmaschine gestürzt sein. Wadenlange Strickkleider trägt man heute nicht mehr, sie schon, und zwar mit Stolz und Überzeugung. Auch ist es heutzutage in ihrer Altersklasse nicht mehr üblich, in einem Restaurant die Kopfbedeckung aufzulassen, auch Frauen dürfen ihr Haupthaar heute zeigen, wenigstens in unserem Kulturkreis, aber diese Prinzessin trägt im Pub eine Pelzmütze mit Schirm, unter der fahlgoldenes Haar hervorfließt. Sie wir doch hoffentlich keine Ausfallserscheinungen zu verbergen haben. Und dann der Hals, etwas länger als erwartbar und stets erwartungsvoll nach vorne gereckt, als ob sie ihn zu lange aus einem Fenster des Buckingham Palasts gereckt und sich dabei zu viel Zugluft ausgesetzt hätte. Solche Hälse tragen Renaissance-Madonnen, die den lieben, langen Tag huldvoll von oben auf ihr Erlöserkind herabschmachten. Ohne Kind im Arm scheint dieser Hals eher auf Dauerlauer zu liegen. Ein nach hinten versetzter Unterkiefer mit einem stets halb geöffneten Mund verstärkt diesen Eindruck und verschafft ihr das Profil eines lauernden Haifischs. Dazu eine spitze Nase und ein spitzes Kinn, etwas eingefallene Wangen – die Reisebegleiterin ist felsenfest überzeugt: Princess Annes Jugenddouble neben sich zu haben.  

Und plötzlich, völlig unerwartet, wenden sich „The Voice" und „Princess Anne", während die Unscheinbare wieder einmal beim Rauchen ist, an uns mit den üblichen herzlichen Fragen nach dem Woher und Wohin. Die Prinzessin ist so britisch wie man sie sich vorstellt, aber überaus zugewandt, interessiert und aufgeräumt, fast schon eine gebremste Ulknudel. „The Voice" zeigt strahlend parlierend Zahnlücken und einen knorzigen Humor. Als wir schließlich die Frage nach unseren nächsten Zielen mit Cornwall beantworten, geraten die beiden fast aus ihrer Rolle, geben alles höfisch Distinguierte und Hölzerne auf und sprechen nur ein Wort: Glastonbury! Unbedingt, wir müssen nach Glastonbury. Der lauernde Haifisch verwandelt sich binnen Sekunden in ein gackerndes und keckerndes Moorhuhn mit rollenden Augen, und der außer Kontrolle geratene Hals stößt wie eine Waffe nach vorne, an deren Spitze der Hühnerschnabel Gaa-ga-ga-gack Gla-ston-bury skandiert. Die tollste Stadt weit und breit, gaa-ga-ga-gack, sie müssten es ja wissen, gaa-ga-ga-gack, denn sie kämen von dort, gaa-ga-ga-gack, nichts Vergleichbares, heute seien sie hier, gaa-ga-ga-gack, um einen 90. Geburtstag zu feiern und wir dürfen – gaa-ga-ga-gack – Glastonbury unter keinen Umständen anderen Zielen opfern. Gaa-ga-ga-gack! Dann wird Glastonbury noch in seine touristisch unverzichtbaren Einzelteile gestückelt, bis wir versprechen, Glastonbury noch heute in unser Roadbook aufzunehmen.  

Während dieses ersten und unvergesslichen Pub-Talks, wie man ihn sich nicht schöner ausmalen kann, ist ein zweites Pint Dunkles in den Chronisten geflossen und hat sich die Weinflasche der Plaudertasche fast wie von selbst geleert. Dabei blicken wir uns mehrfach um, um sicherzustellen, dass nicht irgendwo in einer Pub-Ecke John Cleese lümmelt, der uns für einen neuen Monty Python-Film auf die Schippe nehmen will. Aber da ist niemand, nur wir, die Drei und noch ein Paar in einer entfernten Ecke. Die Drei sind tatsächlich so und hundert Prozent echt. Als wir der Wirtin 55 £ (mit Trinkgeld für ihren hilf- und sprachlosen pubertierenden Lehrbuben) überweisen, haben wir sie bereits ins Herz geschlossen und in die Ehrengalerie unseres Reisealmanachs aufgenommen.  

Eine solche Kneipenbekanntschaft gleich am ersten Abend lässt sogar nachts um 22 Uhr die Sonne scheinen und den Ärger des Tages wie ein Gespenst verblassen. Wolkenlose 11 °C tun ein Übriges dazu.  



Rye Harbour / Arundel
Escalles