Der Bairische Blues fährt ins Blaue - und ist dann mal weg

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Rye Harbour / Arundel

Rye Harbour

Donnerstag, 14.4.2022

Wir verlassen das Woolpack Inn um 9 Uhr ohne Frühstück. Es ist wolkenlos bei 11 °C.  

Der anscheinend überstürzte Aufbruch ergibt sich aus der Idee, heute das Naturschutzreservat und Vogelschutzgebiet im großen Marschland bei Rye Harbour zu besuchen. Da Osterferien sind, Ostern noch bevorsteht und auch das Wetter zu Freiluftaktivitäten einlädt, vermuten wir, dass es heute ziemlich busy werden wird in der Marsch.  

Bereits um 9:20 Uhr sind wir in Rye Harbour und versuchen auf den großen Besucherparkplatz zu kommen, den wir in Google Maps entdeckten. Offensichtlich war ihm nicht bekannt, dass es für den Parkplatz eine Höhenbeschränkung von zwei Metern gibt. Wir wissen, dass es in dieser Hinsicht in UK problematisch werden kann, weil viele Parkplätze ausschließlich PKWs vorbehalten sind. Warum das so ist und anderswo nicht, erschließt sich niemand, außer den zuständigen Behörden. Wirklich unangenehm wird diese Aussperrung, wenn es dann keine Wendemöglichkeit gibt und man wie ein Korken in der Flasche festsitzt. Die Lösung ist ein Holiday Park direkt vor uns. Dort steuert der Chauffeur seinen Franz, steckt jedoch alsbald schon wieder fest, weil nirgendwo ein Hinweis auf eine Ausfahrt erkennbar ist. Kurzerhand wendet er an einer größeren Ausbuchtung und fährt, zum Erstaunen der Gäste des Parks und zum Entsetzen der Navigatorin, einfach gegen die Einbahnstraße zurück. Sollen doch alle maulen! Mit dem Chauffeur ist schon am frühen Vormittag nicht gut Kirschen essen.  

Vor dem Besucherparkplatz finden wir an der Zufahrtsstraße einen Hocker, den wir sofort belegen [N 50° 56' 14,2'' E 000° 45' 46,1'']. Kaum stehen wir da, sind wir schon von anderen Höhenbeschränkten, alles Briten mit Box auf dem Dach, umringt. Selbst die dürfen nicht hinein und machen ein langes Gesicht.  

Dann nehmen wir unsere Mädels mit an die frische Morgenluft und marschieren los. Es ist eine herrliche Wasser- und Brachlandschaft mit bestens gepflegten Wegen und eine Fülle von Informationen zu den Tieren, Pflanzen sowie das Zusammenspiel der Natur und die Abhängigkeiten in einem solchen Biotop.  

Natürlich sind wir nicht allein, sondern werden schon von einigen Morgenspaziergängern begleitet, viele mit Hund. Aber fast alle haben ihre meist gut erzogenen Hunde sehr gut im Griff, und niemand kommt auf die Idee, seinen Hund mit unseren spielen zu lassen, wie man das zuhause so häufig erlebt. Man plaudert miteinander, lobt und bewundert den Hund des anderen, findet ihn schön und dann trennen sich die Wege ohne Aufhebens wieder. Wenn man diese Erfahrung macht, versteht man, warum hier nirgendwo Schilder stehen mit dem Befehl, Hunde an der Leine zu führen. Hier gilt die Bitte: Please keep your dog under control. Dazu braucht es nicht unbedingt eine Leine.  

An mehreren Seen stehen Häuschen zur Vogelbeobachtung, die wir gerne in Anspruch nehmen. In den Hütten findet man alle Vögel beschrieben und mit Bild, die man zu den unterschiedlichen Jahreszeiten erwarten kann. Wir lernen heute zum ersten Mal die Vielzahl von Möwen kennen, wovon wir bisher keinen Schimmer hatten. Und nach dem Besuch können wir schon einige sicher unterscheiden. Kormorane treiben sich herum, Entenvögel auch, aber das große Vogelerlebnis ist heute nicht dabei. Es ist eben immer noch früh im Jahr.  

Wir genießen die fünf Kilometer durchs Marschland von Rye Harbour dennoch sehr und die Mädels auch, doch als wir uns gegen 11 Uhr wieder dem Franz nähern, sind wir froh, schon so früh aufgebrochen zu sein: Die vorhergesehene Völkerwanderung ist in vollem Gang. Scharen von Wanderern bewegen sich über die Wege, acht von zehn mit Hund. Es ist gut, dass wir schon alles gesehen und den Platz in den Beobachtungsständen fast allein hatten.  

Als wir wieder zurück sind, hat es ziemliche windige, aber dennoch angenehme 16 °C. Nun bekommen die Mädels endlich ihr Frühstück, wir begnügen uns mit einer Scheibe Zuckerbrot auf die Faust.  

Um 11:35 Uhr rangieren wir uns aus der Umarmung der Dachkofferträger. Unser wichtigstes Anliegen: Weg vom Strand, ein wenig ins Landesinnere, um den Osterurlaubern aus dem Weg zu gehen. Die wird es zwar auch im Landesinneren geben, aber Strand zieht die Massen mehr an.  

Im Nu werden wir in einen Verkehrsstrudel gerissen; es herrscht ein Höllenverkehr und ein ununterbrochener Gegenverkehr. Von jedem Kreisverkehr aus, und die gibt es alle zweihundert Meter, führt ein Weg nach London, und aus all diesen Straßen schieben sich neue Urlaubswillige in den fließenden Verkehr, vor allem nach Süden an die Küste. Wir haben momentan keine Chance, diesem Massenaufbruch zu entgehen, wir müssen vorerst die Küste entlang. Und dort liegen bekannte Ziele wie Hastings, Eastbourne, Newhaven, Brighton, das ehemals mondäne Seebad und heutiger Massenzufluchtsort seesüchtiger Londoner, dazu die Hafenstädte Portsmouth und Southampton. Vor allem die Ortsdurchfahrten sind bei diesem Ameisenverkehr eine Herausforderung an die Konzentration. Zum Glück können wir alle größeren Ort, außer Hastings, weiträumig umkurven, aber die kleineren sind auch nicht übel, vor allem sind sie eng.  

Hastings bleibt uns nicht erspart, jenes Hastings, das dadurch Berühmtheit erlangte, weil dort 1066 der Normanne Wilhelm an Land ging und den Engländern die Hoheit über ihr Land wegnahm. Im Laufe der Jahrhunderte haben sie sich für diese Schmach überall auf der Welt reichlich entschädigt, frei nach dem biblischen Motto: Land um Land, Provinz um Provinz, Kulturgut um Kulturgut.  

Heute ist Hastings ein Badeort und eine touristische Ameisenstraße. Langgestreckt zieht sie sich am Wasser entlang, man fährt von einem Kreisel zum nächsten und hat das Gefühl, die Stadt hört nicht mehr auf. Von der ursprünglich attraktiven Bausubstanz, wie man sie in der großen Zeit der Seebäder errichtete, ist nichts mehr zu sehen, außer schwülstigen Replikaten im Großformat, alles ein bisschen viel zu viel, ein bisschen zu gewollt, ein Hauch zu protzig, ein bisschen zu lärmend und marktschreierisch, ein bisschen ordinär und verballermannt. Könnte der Chauffeur die Augen schließen, würde er es mit Gewinn für seinen Seelenfrieden tun, aber er kann und darf nicht. Die Navigatorin findet durchaus Gefallen an den architektonischen Hochzeitstorten mit Marzipanbalkonen und Sahnehäubchen. Offensichtlich ist sie hier nicht die einzige, die so empfindet.

Irgendwann haben wir auch das nervige Hastings hinter uns und streben weiter nach Westen. Aber die Nerven finden weiterhin keine Ruhe. Jetzt lassen uns plötzlich die Navis im Stich. Auf sie haben wir uns bisher, mit kleinen Ungereimtheiten, verlassen können, doch nun scheint nicht nur beim Chauffeur gelegentlich der Kreiselkompass die Nordung zu verlieren, sondern auch die Navis. Eines sagt links, das andere rechts oder gar nichts, woraufhin auch die Navigatorin schweigt oder hinhält oder stammelt – und der Chauffeur will einfach nur wissen, welche Ausfahrt er nun nehmen oder einfach die nächste halbe Stunde im Kreis fahren soll, bis sich das Kompetenzteam auf irgendeine Ausfahrt geeinigt hat. Das nervt und macht unwirsch. Es fallen auch harsche Worte. Die Stimmung gleitet auf Meeresniveau. Als er ankündigt, den Englandbesuch sofort abzubrechen, wenn sich das nicht bessert, taucht die Stimmung auf unter Normalnull ab. Dabei geht es nicht um die Leistung der Navigatorin, die sich Mühe gibt, aber unzuverlässige Ansprechpartner hat. Das kann nicht gutgehen. Deswegen ist er der Überzeugung, dass es nach viermonatigem entspanntem Touren nicht erstrebenswert wäre, nun unter High Voltage die letzten Wochen zu absolvieren. Aber immerhin fahren wir noch weiter nach Westen, irgendwie zerknirscht und im staubedingten Schneckentempo.  

Um 14:25 Uhr sind wir dann doch noch an der Ship & Anchor Marina und Campsite angekommen [N 50° 49' 37,0'' W 000° 34' 40,4''], wo wir bleiben wollen, bis der Ostertrubel vorüber ist, denn ab morgen wird es schwer werden, irgendwo einen brauchbaren Platz zu finden – und fünf Tage frei, ohne Ent- und Versorgung durchzustehen, wäre sehr ambitioniert. Der Campingplatz liegt in der Gemeinde Ford, die wiederum zu Arundel (Sussex) gehört, wo es ein sehr beeindruckendes Schloss zu besichtigen gibt.  

Wer diesen Campingplatz aufsucht, bekommt es sofort mit dessen Besitzerin zu tun, die sich freundlich und britisch höflich als Helen vorstellt. Bei unserem Ansuchen, bis mindestens Sonntag bleiben zu wollen, druckst sie ein wenig herum und meint, uns leider nur einen Pitch bis Samstag zur Verfügung stellen zu können. Aber sie versteht unsere Osterargumente und kramt in ihren Zetteln, die ihr mobiles Büro zu sein scheinen, grübelt und wägt ab, bis sie eine Lösung findet, uns einen Platz bis Montag geben zu können. Und bis Dienstag? Das ist dann kein Problem mehr, da sind alle wieder weg.  

Nachdem wir Helens Segen haben, bittet sie den Chauffeur „please to proceed to the pitch where the daisies are" und geht mit der Navigatorin voran, direkt zu einem Platz voller Gänseblümchen, welche es nicht zu stören scheint, dass sie zwischen Plastikwaben gedeihen müssen, die uns einen sicheren Untergrund gewähren sollen. Anschließend nimmt sie uns an die Hand, führt uns durch ihr Reich und erklärt uns, wie hier alles funktioniert. Sie führt uns vor, wie man den Code für die Sanitäranlagen eingibt, zeigt uns, wie man einen Chip (0,50 £) in den Duschautomaten fingert, um dafür zehn Minuten heißes Wasser zu bekommen, führt uns zu den Wasserstellen und zur Chemietoilette, aber – unfortunately – gibt es keine Grauwasserentsorgung, das müsse man eben – unfortunately – mit einem Eimer entsorgen.  

Helen nimmt nur Bares, und auf unseren Hinweis, dass wir kein Bares hätten und einen Bankautomaten bräuchten, erklärt sie uns wortreich, wie man zu Coop in Yapton kommt, der habe zwei Bankomaten und auch sonst alles in hoher Qualität. Unsere Nachfrage nach TESCO drüben in Wick, wohin wir mit den Rädern fahren könnten, zeigt sie sich ein wenig reserviert und kopfwiegend: Yes, it's a good idea, but I tell you: We have a very expensive bicycle path, but unfortunately it ends at the roundabout. Und es sei nicht einfach, den Kreisel zu queren. Wir machen uns – unfortunately – fast in die Hose vor Vergnügen. Wo ein Deutscher gesagt hätte: ‚Davon rate ich euch dringend ab, unsere Vollpfosten im Rathaus haben einen sündteuren Fahrradweg gebaut, der aber am Kreisel endet', sagt sie, dass er unfortunately in einer Kreiselhölle endet. Diese kleine Frau ist energiegeladen bis zum Bersten und unbezahlbar. Während der gesamten Einführung strahlt sie uns an und lächelt jedes Problem weg. Spazierwege mit den Hunden: kein Problem. In die Richtung, etwa drei Meilen am Fluss, dem Arun, entlang kommt man nach Wick, dort wo der TESCO ist, und in die andere Richtung, auch drei Meilen kommt man nach Arundel, immer am Fluss entlang, aber für die Fahrräder sei der Weg – unfortunately – etwas bumpy. Gleich hier, am Damm entlang ist eine Brache, ein ungenutztes Feld, auf das wir die Hunde auch führen könnten, der Bauer habe nichts dagegen. Schon nach wenigen Minuten wissen wir: Helen ist nicht nur unsere Gastgeberin, sondern eine Autorität, nicht nur auf ihrem Campingplatz.  

Wir fühlen uns wohl und Helen informiert uns, dass sie über Ostern – unfortunately – 29 £ berechnen müsse. Falls wir noch bis Dienstag bleiben wollten, was sehr weitsichtig von uns wäre und von ihr begrüßt würde, wären für die letzte Nacht nur 25 £ fällig. Wir schlagen ein. In England bekommt man nichts geschenkt und mit den Preisen von Frankreich, Spanien und Portugal darf man nicht rechnen, das wissen wir seit Schottland.  

Wir richten uns häuslich ein. Der Platz ist zum größten Teil noch leer, wir haben nur einen direkten Nachbarn, der Rest sind Wohnwägen und Zelte, weit verteilt. Ab morgen wir das hier anders aussehen.  

Um 16:35 Uhr gehen wir mit den Mädel am Fluss entlang nach Wick zu TESCO, weil wir Geld für Helen brauchen, außerdem eine Internet-Karte für UK, noch ein paar Vorräte für das ganz lange Wochenende, und die Mädels sollen sich auch noch ein wenig die Beine vertreten. Der Weg führt immer am Arun vorbei, der in seinem Ebbe-Gewand ein einziges, unansehnliches Schlammloch ist, was uns in Daueralarm hält, damit sich die Weiber nicht vor lauter Übermut noch eine Fango-Packung gönnen. Die Querung des Kreisverkehrs, an dem der „very expensive bicycle path unfortunately" endet, ist tatsächlich nicht ganz ohne, aber die Engländer haben ein Einsehen mit einem hinkenden Hundeführer. Nach einer halben Stunde Einkauf marschieren wir zurück und sind um 19 Uhr nach gut acht Kilometern wieder im Lager und überreichen Helen Bares für fünf Tage. Damit haben wir endgültig Eingang in ihr Poesiealbum gefunden.  

Anschließend begeben wir uns ins angeschlossene Ship & Anchor Inn, das zur Marina und dem Campingplatz gehört. Lammkeule mit Chips genehmigt sich heute der inzwischen wieder völlig entspannte Chauffeur, einen Pulled Pork Pie die ebenfalls wieder eingespurte Navigatorin, beides sehr lecker, dazu leeren wir mehrere Biere und bezahlen schließlich 54 £. Wie gesagt: Geschenkt bekommt man hier nichts.  

Um 21 Uhr bereits beenden wir diesen so abgefahrenen und anstrengenden Tag und sind sicher, dass nach Ostern, wenn der Herr in den Himmel und die Engländer auch wieder abgefahren sind, alles viel besser wird.  

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Arundel
Dungeness / Brookland