Der Bairische Blues fährt ins Blaue - und ist dann mal weg

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St. Michael’s Mount / Tintagel Castle

Tintagel

Donnerstag, 28.4.2022

Der Wind will sich nicht kleinkriegen lassen; frisch und unangenehm bläst er morgens um 8 Uhr und lässt nicht mehr als 8 °C zu. Trotzdem kriegt er die Wolken nicht abgeräumt. Es spricht also alles dafür, heute Henrys Takatukaland zu verlassen. Der Chronist hat sein Motivationstief weggeträumt und freut sich schon wieder auf neue Taten.  

Nach einem Müslifrühstück sehen wir zu, dass wir wegkommen, weil wir heute noch ein bisschen Programm vorhaben.  

Um kurz vor 11 Uhr legt der Franz wieder die Ohren an, um durch das Regenbogen-Tor zu schlüpfen, Henry winkt, Frau Henry wedelt strahlend mit irgendeinem Lappen aus der Rezeptionsküche und dann ist Henry's Campsite für uns Geschichte. Sollten wir jedoch irgendwann noch einmal in die Gegend kommen, werden wir hier wieder vorsprechen. Wobei: ‚Wer zweimal bei den gleichen pennt, gehört schon zum Establishment', haben wir uns seinerzeit versichert. Vielleicht liegt der Grund darin, dass das zweite Mal oft genug nicht mit dem ersten Mal Schritt halten kann. Doch darum wollen wir uns heute keine Gedanken machen.  

Wir fahren nach Westen in Richtung Land's End, beenden die Fahrt allerdings bereits in Marazion beim Heiligen Michael. Nicht nur die Franzosen haben Michael mit dem Mont St. Michel seinen eigenen Berg geschenkt, von dem aus er auf seine Schäfchen herabblicken kann, auch die Engländer widmeten ihm einen solchen Heiligen Berg: St. Michael's Mount, bei dem wir um 11:45 Uhr vorfahren und uns auf den Parkplatz stellen [N 50° 07' 39,2'' W 005° 28' 43,9'']. Die Parkgebühr beträgt für eine Stunde 1,50 £, für zwei Stunden 2,50 £. Wir lösen für zwei Stunden.  

St. Michael's Mount und Mont St. Michel in der Normandie haben einiges gemeinsam. Beide datieren weit zurück, der Kornische Michael bis ins 9. Jh., der normannische ins 10. Jh. Beide stehen im Watt. Dem normannischen Michel hat man eine moderne Brücke geschenkt, damit er über alle Gezeiten hinweg trockenen Fußes besucht werden kann, während man dem kornischen Michael nur zwischen Mittwasser und Ebbe über einen gepflasterten Fußweg seine Aufwartung machen kann. Dafür bedeckt St. Michael's Mount eine deutlich größere Fläche als Mont St. Michel, etwa 23 ha gegenüber spärlichen 7 ha von Mont St. Michel. Der macht das allerdings mit seinen Besucherzahlen mehr als wett: 3,5 Mio. Besucher jährlich sind glatt das Zehnfache der Besucher, die der kornische Michael verbuchen kann. Beide ragen markig aus dem Meer, der normannische Michel sicher etwas plakativer als sein Bruder, der sich dafür bei den Preisen, die er von seinen Gästen nimmt, hervortut. Der Besuch der Abtei von Mont St. Michel kostet 11 €, der Berg selbst ist kostenlos. Schon für den Zutritt zum Berg von St. Michael muss man 14 £ bezahlen, für den Besuch des Gartens nochmal 10 £. Wir beschließen, bei passender Gelegenheit wieder einmal den Franzosen zu besuchen und zeigen dem Engländer die kalte Schulter.  

Aber die Mädels lassen wir am Strand vor dem heiligen Berg rennen und sich austoben und beenden unseren Besuch hier bereits nach einer Stunde wieder. Das eine Pfund für die zweite Parkstunde schenken wir dem kornischen Michl gerne.  

Um 12:45 Uhr fahren wir weiter, und zwar von der Südküste Cornwalls stramm nach Nordosten zur Nordküste. Die Fahrt quer durch Cornwall ist heute wieder einmal kein Vergnügen. Vielleicht nimmt es uns Michael übel, dass wir ihn verschmähten, und gefällt sich in kleinlichen Rachescharmützeln auf der Straße, weswegen er heute die Hecken und Mauern so nahe an den Straßenrand heranrückt, dass man schon ohne Gegenverkehr genau überlegt, ob es sich noch ausgeht, das nächste Schlagloch zu umfahren oder es besser einstecken sollte. Und weil der Michael mit seinem Schwert jeden erpresst, ihn dereinst nicht in den Himmel zu lassen, wenn er ihm nicht zu Willen ist, folgen offenbar heute alle Dickschifffahrer seinem Ruf und bauen sich zuverlässig an den engsten Stellen und uneinsichtigsten Kurven vor uns auf.  

Auch die Ortsdurchfahrten scheinen uns heute besonders tricky, nicht zuletzt, weil Michael uns offenbar all jene Leute auf den Hals hetzt, die wir auch von zuhause kennen, nämlich jene, die völlig sorglos aus Einfahrten rollen oder die Vorfahrt beanspruchen, die sie nicht haben, weil hier noch nie jemand um diese Zeit vorbeigekommen ist. Huch! Dann wird gekurbelt und gezaubert, dass es (k)eine Freude ist und Fianna, der Trägheit der Masse folgend, von der Sitzbank kugelt. Würde die unheilige Fianna bei diesen Manövern ihr Leben verlieren und plötzlich unangemeldet vor dem scheinheiligen Michael am Himmelstor auftauchen, würde sie ihm ihre Initialen dermaßen nachdrücklich in den bleichen Alabasterhintern stanzen, dass er seinen Job als Türsteher stante Pede quittieren und lieber die himmlische Dönerbude übernehmen würde.  

Selten hat die Navigatorin so viel Luft durch die Zähne gezogen wie heute und scheint erheblich angespannter als der Chauffeur zu sein. Möglicherweise liegt das daran, dass sie in vielen Situationen auf der Einschlagsseite sitzt. Als Chauffeur ist man beschäftigt und gefordert und hat keine Zeit, an eine ungewisse Zukunft zu denken, die, wenn man sie zu eingängig reflektiert, schneller Gegenwart wäre als man sich vorstellen mag. Dennoch stellt sich der Chauffeur an solchen Tagen schon gelegentlich die Frage, ob ihn die nun doch schon monatelang abverlangte Konzentration, die sich in UK noch verdichtet hat, doch Tribut von seinem Nervenkostüm fordert. Er fährt weiterhin jeden Tag gerne, lässt sich auch nicht so leicht ins Bockshorn jagen, aber möglicherweise muss er dafür inzwischen mehr investieren als vor zwei Monaten.  

Trotz aller Versuche Michaels, uns aus dem Verkehr zu ziehen, kommen wir um 14:30 Uhr unbeschadet am Tintagel Castle an und suchen den King Arthur's Carpark auf [N 50° 39' 53,0'' W 004° 45' 05,1'']. Der Parkplatz ist groß und wenig charmant, wie man es kennt. Nebenan bietet sich noch ein ebenfalls sehr großer Wiesenplatz an, den wir jedoch verschmähen, weil er an manchen Stellen recht bucklig ist, zudem das Gras hoch steht, was uns bei den hiesigen Wetterbedingungen ständig nasse Füße bescheren müsste. Und sollte es regnen, könnte uns auch eine Matschpartie drohen; und was das Wetter in den nächsten Stunden vorhat, lässt sich hierzulande nicht absehen. Wir entscheiden uns für den Asphaltplatz, der nachts, wenn die Tagestouristen mit ihren Bussen abgereist sind, sowieso fast leer sein wird. Die Nacht kostet von 17 Uhr bis morgen 10 Uhr 5 £. Für die zwei Stunden von jetzt bis um 17 Uhr werden nochmal 2 £ fällig, macht 7 £; da haben wir schon teurer gestanden. Der Wiesenplatz kostet übrigens genauso viel.  

Der Parkplatz ist mitten im Ort Tintagel, alle Kneipen sind mit wenigen Schritten zu erreichen, für die Hunde gibt es ebenfalls genug Gelände. Tintagel verströmt einen netten Charme, obwohl es ein reiner Touristenort ist. Die Häuser sind klein, manchmal geradezu putzig und meist alt, aber man hat hier offensichtlich den Schlüssel für die Quadratur des Kreises gefunden: Wie mache ich ein praktisch, gutes Touristenpaket zu einer runden Sache. Dass das trotz all der Kneipen, Souvenirläden und sonstigen Lockangeboten gelungen scheint, nötigt uns einigen Respekt ab.  

Aber was lockt uns und all diese Leute hierher, in diese doch etwas wilde und ausgesetzte Ecke Cornwalls, auf diese wilde Halbinsel mit ihren steilen Zugängen? König Artus (engl. Arthur) ist es, dem man unterstellt, auf Tintagel Castle gezeugt worden zu sein. Und weil wir alle gerne in den Spinnweben der frühen und edlen, mitunter auch unedlen Ritterzeit mit ihren Burgfräulein herumstöbern, laufen uns an solchen Örtlichkeiten gralsmäßige Schauer über den Rücken. Die Nebel von Avalon wabern in unserer Vorstellung herum, Tristan und Isolde gehören auch zu den Protagonisten der Szenerie, weil alles, was jenseits der Geschichtsschreibung sein nebulöses Leben fristet, hier einsortiert wird. Dabei darf selbstredend die Tafelrunde und Merlin mit seinem Schwert Excalibur nicht fehlen; alles irgendwie Tintagel-Tingeltangel.  

Jener Merlin soll auch der Hochzeitslader gewesen sein, dem Arthur sein Leben verdankte. Damals war, wie Geoffrey von Monmouth in seiner Historia Regum Britanniae berichtet, ein gewisser Gorlois, Herzog von Cornwall, Herr auf Tintagel. Der war mit Igraine verheiratet, die er jedoch wegen ihrer Reize versteckt hielt, was nicht die schlechteste Idee war, denn sein Verbündeter Uther Pendragon, Großkönig von Britannien, hatte ein Auge auf sie geworfen. Wie der es schaffte, den Zauberer Merlin für seine Ziele einzuspannen, wird nicht berichtet, nur, dass Merlin Uther das Aussehen von Gorlois verlieh, worauf sich jener an Igraine heranmachen und sie schwängern konnte. Neun Monate später erblickte die Lichtgestalt Arthur das Licht der Welt. Soll keiner behaupten, dass aus Unzucht nichts Ordentliches werden könne.  

Der Zugang zu den Ruinen des Castles führt steil den Berg hinab, fast bis auf die Talsohle und danach wieder auf die Insel hoch. Besucher, denen diese Viertelstunde zu mühsam ist, können sich mittels Jeeps chauffieren lassen. Der Besuch der Ruinen kostet für Erwachsene „up to 21 £". Wir fragen nicht nach, was „up to" bedeutet, weil die Ruinen zum Heritage Fund gehören und wir schon wieder freundlich durchgelassen werden. Mit diesem Besuch sind wir bereits mit (up to) 42 £ im Haben.  

Von der Burg ist nicht viel mehr erhalten als Mauerreste. Von der Vorburg auf der Landseite führt eine kühne Fußgängerbrücke hinüber auf die Insel, auf der die Hauptburg stand. Auch diese war wegen der geringen Ausmaße der Insel bescheiden, später stürzten durch die Erosion der Klippen noch Teile der Burg ins Meer. Es ist nicht das alte Mauerwerk, das uns eineinhalb Stunden hier festhält und verzaubert, sondern die ganze Kulisse, der man tatsächlich ein bisschen Merlin, Artus und Tristan & Isolde zutraut. Wenn man die Augen schließt, könnte man sich sogar eine Tafelrunde visualisieren: Bechergeklapper, Männergespräche, Verbrüderungsrituale, Treueschwüre. Noch gestern war sich der Chronist nicht sicher, wie viele Klippen und Steilküsten er noch ertragen will, heute kann er kaum genug bekommen. Es ist eben nicht nur das einzelne Versatzstück, das den Reiz auslöst, sondern das gesamte Setting. Und das könnte sich kein Kulissenbauer schöner ausdenken.

Man lässt auch nichts unversucht, um in uns den Zauber der fiktionalen Geschichts-schreibung am Leben zu erhalten. So sind in einer kleinen und zerfallenen Gartenanlage Steine in den Boden gelassen, auf denen in wenigen Stichworten die Geschichte von Tristan und Isolde erzählt wird. Alles, wie wir wissen, fauler Zauber, aber unbeschreiblich zauberhaft. Als wir die Burg verlassen und uns wieder den Gegenhang hinaufwuchten, sind wir uns einig: Auch uralte Hütten können unwiderstehliche Reize haben.  

Um 16:40 Uhr sind wir zurück und, kaum den Hirngespinsten des frühen Mittelalters entkommen, hält die Gegenwart eine neue, sehr interessante Erzählung für uns bereit, nur eine kleine Episode am Rande, aber, wie wir finden, einen Satz wert. Auf unserem Parkplatz steht ein Bus mit Luxemburger Schülern zur Abfahrt bereit: Abfahrzeit 16:45 Uhr. Als es so weit ist, fehlen drei Schülerinnen. Sie kommen drei Minuten zu spät dahergeschlendert und bekommen von ihren Lehrerinnen eine solche Ansage, dass sie auf Paketformat zusammengefaltet im Bus verschwinden. 16:45 Uhr ist Abfahrt und nicht 16:50 Uhr! Klar?? Wow! Bei uns würde das einen Shitstorm nach sich ziehen und einige Rechtsanwälte reich machen. Offenbar spielen Disziplinfragen in anderen europäischen Ländern noch eine wesentliche Rolle in der schulischen Praxis. Aber vielleicht werden diese drei Schülerinnen dank des Einlaufs, den sie in Tintagel verabreicht bekamen, einst jenen Rahm abschöpfen, den ihre deutschen Kolleginnen verschlafen.  

Obwohl sich der Himmel über den drei Luxemburgerinnen kurzfristig verfinsterte, ist er für uns schon fast wieder makellos. Das ist der richtige Zeitpunkt, die Mädels auszuführen. Erst um 18:30 Uhr sind die drei wieder zurück und augenscheinlich in bester Stimmung.  

Wir gehen nun ins The Olde Malthouse, um beim Essen den Tag zu verdauen. Wir bestellen Hühnerbruströllchen mit Kartoffelgratin und Babyspargel sowie Sea Bass (Wolfsbarsch) mit Gratin und Gemüse. Unser Pudding besteht heute aus warmem Schokokuchen mit flüssigem Kern und Pannacotta. Mit Bier, Cider und Aperitif-Gin kostet uns das 75 £. Die Gerichte sind liebevoll und kreativ zubereitet, auch wenn man für uns nur noch einen Katzentisch hat, weil wir nicht reserviert haben. Offenbar finden auch genug andere, dass ein Besuch im Olde Malthouse lohnt.  

Doch noch sagen wir dem Tag noch nicht adieu: Um 20:35 Uhr spazieren wir mit Fianna und Hedda zum alten Friedhof hoch, um zu überprüfen, ob die Sonne auch heute planmäßig und klaglos ertrinkt. Sie tut es und täte es auch, wenn wir ihr nicht beim Sterben zuschauen würden.  

Um 21 Uhr ist dann auch dieser Zauber Geschichte und wir begeben uns langsam zur Ruhe. Am Ende dieses letztlich unvergesslichen Tages ist es uns ziemlich egal, ob oben in den Ruinen Merlin irgendwelchen Edelfrauen Liebhaber zuzaubert oder Tristan und Isolde einen Liebestrank schlürfen oder Artus zu betrunken ist, um Excalibur aus dem Fels zu ziehen. Sollen sie doch. In Glastonbury, wo Arthurs Erdenweg endet, sehen wir uns sowieso wieder.



Glastonbury
The Lizard