Der Bairische Blues fährt ins Blaue - und ist dann mal weg

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The Lizard

Kynance Cove

Mittwoch, 27.4.2022

Um 9 Uhr ist der Wind wieder richtig ausgeschlafen und pfeift uns um die Ohren. Bei wolkenlosen 11 °C ist das richtig frisch.  

Noch in den Betten vergraben, beschließen wir, einen weiteren Tag zu bleiben, was gestern nur eine Option, aber noch nicht in trockenen Tüchern war. Bei diesem Wind werden auch die feuchtesten Tücher schnell trocken.  

Bis wir das Frühstück abräumen, ist es schon fast High Noon. Wir pflegen unsere Reisedoku, aber der Blog läuft wieder einmal nicht. Der Kontakt zum Provider (1&1 IONOS) bleibt bis abends erfolglos. Man werde sich melden lautet die lustlose Antwort.  

Weil der Chronist nach den Wanderungen der vergangenen Tage ein wenig Rücksicht auf sein Knie nehmen muss, zieht die Dogwalkerin ohne ihn mit ihren Lieblingen hinaus zur zwei Meilen entfernt gelegenen Kynance Cove. Mit türkisgrünem Wasser wird ihr Eifer belohnt und mit Ausblicken, die nur solche Weltendlagen bieten können. Die Mädels unterstützen ihr Vergnügen, indem sie heute besonders brav sind, ihr jeden Wunsch von den Augen ablesen und sich jederzeit herbeirufen lassen, was vor allem entlang der Steilküste von unschätzbarem Wert ist. Selbst Quicksilver-Hedda gibt heute das brave Mädchen und kommt deshalb auch nicht vorzeitig in den Himmel. Nach zwei Stunden und 5,5 Kilometern kommen die drei wieder putzmunter und frisch durchgelüftet zurück.  

Abends gehen wir ins Witch Ball, ein sehr authentisches Pub, nur 200 Meter weg. Die Herzlichkeit, die uns hier entgegenschlägt, zeigt sich schon bei der Getränkebestellung. Da wir überall, wohin wir kommen, gerne Lokales oder mindestens Regionales probieren wollen, fragen wir immer danach. Normalerweise werden dann die entsprechenden Produkte aufgezählt und wir entscheiden uns dann eben auf Verdacht. Hier bekommen wir ein dunkles Bier und einen Cider in einem kleinen Glas zum Vorkosten serviert und wissen nun, was uns erwartet. Das vorgekostete Bier und der Cider munden und kommen nun in einem ortsüblichen Glas auf den Tisch. Fish & Chips sowie Shrimps & Chips brauchen keine Vorverkostung, was sich umgehend rechtfertigt: Sehr fein. Obwohl man in England nach einer solchen Mahlzeit eigentlich immer randvoll ist, kommt es zuverlässig zur Gretchenfrage: „Would you like the pudding menu?" Schon die Vorfreude auf diese Frage ist einen Pub-Besuch wert. Hier fragt man nicht, ob man ein Dessert wünscht, nein: Pudding ist das Gebot der Stunde. Wir wollen, aber nur eine Portion Chocolade Toffee Pudding, den wir mit zwei Whiskys veredeln. Der Hexenball kostet uns heute 55 £. Wir sind rundum zufrieden, alles sehr typisch hier, alles prima, einschließlich der unaufdringlichen, dafür umso freundlicheren und aufmerksamen Bedienung.  

Als wir nach Hause gehen, hat sich der Wind schon fast völlig erschöpft und für uns nur noch einen Sterbenshauch über. Aber das Thermometer bleibt auch bei 9 °C hängen, und mangels Wind, haben nun Wolken die Regie übernommen.  

Wir haben heute beschlossen, Land's End, den westlichsten Zipfel Cornwalls und damit Englands, nicht anzufahren. Erstens sind die Straßen dorthin noch enger und kritischer als wir es bisher schon kennen, was bei dem dort herrschenden Touristenrummel wenig Vergnügen erwarten lässt. Und genau in diesen Touristenrummel, der am westlichen Ende Englands vorgibt, hier sei gleich die ganze Welt zu Ende, wollen wir nicht eintauchen. Das Ende der englischen Welt ist nicht mehr und nicht weniger als ein weiteres Kap mit einer martialischen Steilküste, wie wir sie schon von vielen vergleichbaren Zielen kennen. Warum man dieses unbedeutende Weltende mit Action-Trubel, Kinderspektakel, 3D-Kino, Tingeltangel und Ringelpitz aufbrezeln muss, erschließt sich uns nicht.  

Der Chronist kann auch generell eine gewisse Füllgrenze seiner Aufnahmefähigkeit nicht leugnen. Seit vier Monaten flutet nahezu täglich so viel Neues und auch Großartiges auf uns ein, dass zumindest er eine Art Aufnahmesperre in sich verspürt. Ist es unangemessen, nach einer solchen Dauerbefüllung auch einmal verarbeiten und innehalten zu wollen? Ist es undankbar, wenn man Spektakuläres nicht mehr als etwas Neues empfindet? Ist eine gewisse Übersättigung der Preis, den man für eine solche Reise zahlen muss? Die Reiseleiterin kennt solche emotionalen Bremsen nicht, sie schaufelt in sich hinein, was geboten wird und genießt in vollen Zügen. Wohin schaufelt sie das nur? Der Chronist erfreut sich dagegen keines solchen erlebnisresistenten Saumagens. Schon in Schottland war er an eine Grenze gekommen, an der er einfach keine Steilküste und keine Klippe mehr sehen konnte - die Ausprägung eines ganz persönlichen Cliffhangers. Das hat aber der bis heute anhaltenden Begeisterung für Schottland keinen Schaden zugefügt. Die Frage ist also nicht, ob man des Reisens überdrüssig ist, sondern ob Programmänderungen der Neugier wieder auf die Sprünge helfen können.  

Einen ganzen langen Abend haben wir heute im Pub und anschließend im Franz diesen Gemütszustand des Chronisten erörtert und herumgekugelt, gedreht und gewendet, was für sich schon unbezahlbar ist. Wie oft tauchen wir schon so tief in die Gefühlswelt unseres Partners ein und wie oft öffnen wir uns dem anderen für einen solchen Tauchgang? Man kann eine solche Reise unter den beengten Umständen nicht anders gestalten, als sich so nahe zu sein wie nie. Die Bedingungen lassen keine Distanz über längere Zeit zu; man kann sich nicht verstellen und verstecken. Und wenn nicht mehr als das von unserer Reise überlebte, wäre sie jeden Tag wert.  

St. Michael’s Mount / Tintagel Castle
Falmouth / The Lizard