Der Bairische Blues fährt ins Blaue - und ist dann mal weg

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Escalle

Escalles

Sonntag, 19.6.2022

Die britischen Inseln verabschieden uns mit kräftigen Gewittern die ganze Nacht über, mit den dazugehörigen ausgiebigen Regenfällen. Gewitter? Haben wir im vergangenen halben Jahr überhaupt mal ein Gewitter erlebt? Wir können uns nicht erinnern. Hat man sich an höherer Stelle etwa überlegt, was uns für ein Rundum-Wohlfühlpaket noch fehlen könnte? Macht man sich Sorgen, uns mit Erlebnislücken in den Alltag zu entlassen? Darauf hätten wir jetzt auch noch verzichten können.  

Weil wir von dem strammen Dinner gestern Abend noch immer zehren und daran verdauen, begnügen wir uns vor der Abfahrt mit einem kleinen Frühstück auf die Faust.  

Um 9:30 Uhr fahren wir dem Flying Horse davon und sind bereits um 10 Uhr in Folkstone am Shuttle-Terminal. Es hat wolkige 13 °C.  

Wenn man auf die vielspurige Check-In Harfe zufährt, fällt auf, dass nur wenige Kontrollhäuschen besetzt sind. Der Check-In erfolgt per Display, in das man seine Daten tippt, worauf sich, wenn diese mit der Online-Buchung übereinstimmen, die Schranke öffnet.  

Das gilt aber nur für Normalreisende, nicht für Hundetransporter! Denn kaum, dass wir neben ein unbesetztes Kontrollhäuschen fahren, flitzt von zwei Spuren nebenan eine Uniformierte herbei und fragt, ob wir Hunde an Bord hätten. Haben wir, jawoll, zwei sogar. Dann würde sie uns bitten, jetzt zur Pet-Reception zu fahren, um uns dort zu registrieren. Hier ist wirklich alles perfekt organisiert. Sobald die Kameras unser Kennzeichen erfasst hatten, ist offenbar nebenan ein Kontrolllämpchen angesprungen, das die Dame zur Intervention bestellte.  

Also rollen wir zur Pet-Reception, die kaum zu übersehen ist. Hier sind wir jedenfalls nicht allein, irgendwoher müssen ja die ganzen Hunde kommen, denen wir überall begegneten. Das Personal ist ausgesprochen freundlich, kontrolliert die Chip-Nummern und die Impfpässe und entlässt uns mit einem Info-Anhänger für den Innenspiegel, der uns als Zwei-Hunde-Transporter ausweist. Und wir bekommen einen neuen Abfahrtstermin: 12:20 Uhr. Der alte war 13:50 Uhr. Das ist der Vorteil, wenn man den Kanal unter, statt auf dem Wasser, quert. Die Züge fahren alle 20 Minuten und werden aufgefüllt. Und Reisetabletten braucht man auch nicht…  

Jetzt heißt es also warten, was uns im Franz deutlich leichter fällt als all den anderen in ihren Pkws. Einen Besuch im Duty-Free verkneifen wir uns heute, weil wir nicht riskieren wollen, dass sich die Reiseleiterin noch einmal im Regal vergreift und schusselig ein sündteures Duftwässerchen ersteht. Und Toblerone steht auch nicht auf unserem Einkaufszettel (auf dem überhaupt nichts steht). Dieser Schweizer Gaumenkiller ist ein ähnliches Phänomen wie der Tomatensaft in Fliegern: Kein Mensch kauft es, kein Mensch braucht es, kein Mensch isst es, es sei denn im Duty Free oder im Flieger. Wir brauchen also nichts und sind generell glücklich wunschlos. Also warten wir geduldig ab. Währenddessen bekommen wir laufend alle benötigten Infos aufs Handy geliefert: Boardingzeit, wann das Boarding geschlossen wird und später auch die Wartespur, in die wir uns stellen sollen.  

Um 11:30 Uhr rollen wir zum Boarding. Nach zwei Pass- und zwei Sicherheitskontrollen, bei denen wir nur einmal gefragt werden, ob wir das Gas abgedreht hätten, ohne es zu überprüfen (haben wir natürlich), ruckeln wir uns mit all den anderen auf der Spur 13 für die Großen voran, vor uns zwei Reisebusse, die offenbar etwas länger brauchen. Jedenfalls viel länger als geplant. Und so sind wir erst um 12:25 Uhr an Bord, was bedeutet, dass wir den 12:20-Uhr-Shuttle verpasst haben. Wir schreiben ausnahmsweise keinen Beschwerdebrief.  

Um 12:55 Uhr geht es dann los. Fianna döst völlig losgelöst auf ihrer, des Chronisten, Sitzbank, aber Hedda kuschelt sich wieder an unsere Beine; ihr ist auch die zweite U-Boot-Fahrt nicht ganz geheuer.  

Um 14:30 Uhr (MESZ) betreten wir in Coquelles wieder europäisches Festland. Es regnet bei 13 °C. Hatten wir etwa anderes erwartet?  

Wir haben beschlossen, es genauso zu handhaben wie bei der Hinfahrt und bleiben bis morgen hier. Allerdings haben wir uns diesmal nicht für Camping Les Erables in Escalles entschieden, sondern für Camping Côte d'Opale le Blanc Nez, ebenfalls in Escalles. Um 14:45 Uhr stehen wir vor den Toren des Campingplatzes und stellen als erstes fest: Alles maximal eng hier! Zur Anmeldung muss man bis zur Schranke vorfahren, weil weiter draußen kein Platz ist. Wenn dann jedoch ein Fahrzeug den Platz verlassen will, muss man wieder aus der Einfahrt rangieren. Und der Chauffeur rangiert nicht nur einmal, weil die Nachfrage in der Rezeption die Quartiermacherin erheblich länger aufhält als es den Umständen zuträglich ist. Doch schließlich geht es weiter und hinein. Der sehr umtriebige und aufgeräumte Platz-Betreiber bringt uns zu unserer Parzelle [N 50° 55' 08,6'' E 001° 42' 39,3''], wo wir es uns gemütlich machen, soweit es eben auf einem ziemlich vollen Platz geht. Wir haben uns für die elektrische Luxusausstattung mit 2 Ah entschieden, die im Preis inklusive ist. 4 Ah oder 6 Ah kosten zusätzlich. Wieder einmal macht sich unser Wechselwichtel um unsere Alterssicherung verdient.  

Angeblich soll hier für knapp 90 Fahrzeuge aller Kategorien Platz sein, aber wir kommen überschlägig auf etwa 50 und haben nicht den Eindruck, dass man dazwischen fast noch einmal die gleich Zahl quetschen könnte. Egal, wir haben einen Platz, stellen aber fest, dass wir nun wieder im Reich der Riesen-Liner angekommen sind, jene Kampfmaschinen, die wir in England kaum und Irland nirgendwo angetroffen haben. Wir haben sie, ehrlich gesagt, keinen Augenblick vermisst, vor allem, weil wir jetzt von zwei dieser rollenden Einfamilienhäuser umgeben sind, deren Besitzer unentwegt an allem irgendetwas auszusetzen haben.  

Sei's drum. Wenn wir etwas gelernt haben, ist es, die Ohren zu versiegeln. Wir lassen uns von denen, die auch im Urlaub nie von ihre Kommandokanzel runterkommen, nicht mehr aus der Ruhe bringen. Wir freuen uns stattdessen, dass zum Campingplatz ein kleiner Laden gehört, in dem wir für morgen gleich ein resches Baguette und zwei Pains au Chocolat bestellen. Nach England, wo es so einen Luxus nur sporadisch gab und Irland, wo dergleichen komplette Fehlanzeige war, wissen wir das sehr zu schätzen. Wir sind eben in Frankreich, was sich allerdings nicht nur in Croissants und Baguette manifestiert, sondern auch im fehlenden Klopapier. Jetzt marschieren wir also wieder mit einer Rolle unterm Arm zur Entsorgung. Aber dafür dürfen wir für 1 € auch wieder fünf Minuten duschen.  

So ganz wollen wir uns jedoch von den Inselgebräuchen nicht entwöhnen, deshalb servieren wir uns zum Nachmittagskaffee Scones mit Jam und Clotted Cream, die wir uns in England noch schnell besorgt hatten. Abschied verlängern…

Beim Hundespaziergang werden wir schonungslos in unsere alte Welt zurückgezerrt. Der Strand ist nur 300 Meter vom Campingplatz entfernt, aber die genügen, um uns einen Kulturschock zu verabreichen. Dass wir mit der Invasion an Deutschen fremdeln, wird sich bald wieder einpendeln. Viel schwerer tun wir uns mit den vielen Franzosen und Belgiern. In Belgien haben wir drei Jahre gelebt und Frankreich mit seinen Franzosen war uns seit vielen Jahren ein Herzensanliegen, aber wir haben es nie als schmerzlich empfunden, dass von denen grundsätzlich keine(r) grüßt. In Irland wird man sogar freundlich gegrüßt und angesprochen, wenn man absichtlich zur Seite blickt. Hier und heute blicken alle zur Seite, obwohl wir ihnen ein Lächeln spendieren wollen. In Irland oder England wäre es undenkbar, dass sich vier oder fünf Leute wie eine Panzersperre auf einem schmalen Weg bewegen, ohne dass jemand auf die Idee käme, einen Schritt zur Seite zu machen, wenn man sich begegnet; Kopf runter, Schultern ausbreiten und durch! Im Hundeklo auf dem Weg zum Strand stecken leere Flaschen, dafür reiht sich gleich anschließend ein Haufen an den anderen.  

Ja, dieser erste Kontakt mit dem Festland ist für uns ein richtiger Kulturschock. Die Reiseleiterin leidet darunter wie ein Hund, zumal sie sowieso immer angeschlagen ist, wenn eine Reise zu Ende geht. Mit zwei Attacken dieser Art kann sie nur schwer umgehen und setzt sich nach dem Spaziergang wortlos einige Meter vom Franz in ihren Stuhl, zieht sich eine dicke Pullikapuze über den Kopf und schmollt. Und der Chronist denkt über sein Verhältnis zu Wind nach, sogar über einen warmen Winter im Sommer, das alles gar nicht so frostig scheint, wenn dafür die Menschen das Herz wärmen. Als Erleichterung empfinden diesen Paradigmenwechsel nur unsere Vierläufigen, um die sich hier niemand schert und die völlig unbehelligt ihren Vorlieben nachgehen können.  

Gleich neben dem Campingplatz ist das Restaurant Les Falaises, dessen Speisekarte viel Fisch und Meeresfrüchte verspricht. Dort haben wir reserviert und treten um 19:30 Uhr ein. Meeresfrüchte sind immer eine gute Medizin gegen schwere Gemütslagen. Wir bestellen uns als Vorspeise zusammen einen großen Meeresfrüchteteller. Als Hauptgericht wählt die Reiseleiterin einen Topf Muscheln nach Art des Hauses und der Chronist Muscheln „Provonçale". Ein Fläschchen Muscadet, etwas Wasser und Kaffee tun das Ihrige, um uns zu entspannen. Dafür, dass diese Eiweißbombe, die bei anderen einen Schock auslösen könnte, uns von unserm Schock befreit, zahlen wir 85 €. Eine längere Plauderei mit einem äußerst liebenswerten holländischen Paar löst die letzten Beklemmungen – ist doch nicht alles so schlecht hier im "alten Europa".  

Um 22:15 Uhr sind wir zurück und ziehen uns schnell die Decken über den Kopf. Draußen ist es trüb bei 14 °C. Irische Verhältnisse an der Opalküste.  



Diebach / Vagen
Wye (Ashford)