Der Bairische Blues fährt ins Blaue - und ist dann mal weg

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Toledo

Toledo

Dienstag, 29.3.2022

Morgens dürfen die Mädels noch einmal auf Karnikelhatz gehen, was sie sich kaum einmal sagen lassen, weil sie zur Tür draußen sind, bevor die ganz geöffnet ist. Und ab geht die wilde, verwegene Jagd...  

Um 9 Uhr öffnet uns der Hausherr die Schleusen, damit wir wieder in die Geparden-freie Welt finden. Als wir die Gehege von Sina, Nala, Kisha und Mansour passieren, ist nicht ganz klar, ob die Gefleckten oder die Schwarzen neugierigere Blicke werfen, jedenfalls blicken uns vier Augenpaar interessiert hinterher und zwei saugen sich an deren Blicken fest. Noch einmal bedanken wir uns sehr herzlich bei unseren Gastgebern für die unvergesslichen Tage und Eindrücke, die aufschlussreichen wie heiteren Gespräche und selbstverständlich auch für Kaffee und Kuchen. Dann rollen wir davon, langsamer als gewohnt, irgendwie schaumgebremst, und in uns wächst schon jetzt das Bedürfnis, die vier lebenden Fleckenteppiche so bald wie möglich wieder zu besuchen. Die Zeit wird es regeln.  

Um 10 Uhr machen wir wieder in Camping El Greco in Toledo Quartier. Nach dem Frühstück für uns und die Mädels müssen wir erst einmal verdauen, und zwar das Frühstück und die heftig in uns arbeitenden Eindrücke. Wir erledigen das horizontal, weil man in dieser Position vor dem großen Grübeln eischläft.  

Gegen 14 Uhr fühlen wir uns dann in der Lage, Neues aufzunehmen und spazieren nach Toledo hinein; das schafft man vom Campingplatz aus in gemächlichen 30 Minuten.  

Mit einer Geschichte von über 2000 Jahren ist es keine Überraschung, dass Toledo voller Zeugen dieser Vergangenheit ist. Von den Römern 198 v. Chr. gegründet, machten die Westgoten Toledo zwischen 554 bis 711 zur Hauptstadt ihres Reiches. Danach hatten die Mauren das Sagen, bis sie 1085 von Alfonso VI., König von Kastilien und León, erobert und Hauptstadt von Kastilien wurde. Ihren Status als UNESCO Weltkulturerbe verdankt sie der jahrhundertelangen Mischung der drei Hauptreligionen: Christentum, Judentum und Islam. Das Einzigartige daran ist das relativ friedliche Nebeneinander dieser drei Religionen, während fast überall sonst Verfolgung und Unterdrückung der jeweils anderen Religionen an der Tagesordnung war.

 

Ausgerechnet der christliche Eroberer Alfonso VI. tat sich in dieser Hinsicht durch eine sehr tolerante Religionspolitik hervor, indem er sich das Wissen und die Kultur der Mauren und Juden sicherte, Wissenschaft förderte, die Rolle der Juden aus der Zeit der Mauren am Leben hielt und auf diese Weise das Wissen der Antike und der nahöstlichen und arabischen Welt konservierte. Toledo galt daher im Mittelalter als "Spanisches Jerusalem". Noch heute wird Toledo als Stadt der drei Kulturen bezeichnet. Es erwartet uns also viel Geschichte auf unserem Stadtrundgang.

 

Als wir uns der Stadt vom Westen über die alte Brücke Puente de San Martín nähern, türmt sie sich 100 Meter bedeutungsschwer über dem Tajo auf. Und von da an geht es nur noch auf und ab, steil und eng auf Katzenkopfpflaster. Schon bald drängt sich uns der Eindruck auf, dass die lange Geschichte schwer auf dieser Stadt zu lasten scheint. Die Straßen, die kaum mehr als Gassen sind, liegen tief in den finsteren Häuserschluchten vergraben. Die Stadt ist düster, als wolle sie das Klischee des finsteren Mittelalters hochhalten. Den rotbraunen Sandsteinmauern der Häuser fehlt jegliche Lebensfreude. Dort wo kein Sandstein zum Einsatz kam, sind die Hauswände dunkelbraun verputzt. Schwere, dunkel- bis schwarzbraune Eichentüren mit Eisenverzierungen und schweren Eisenbeschlägen schützen das Innenleben dieser Häuser wie Festungstore.

 

Auch andere spanische Städte, die wir besuchten, haben aus klimatischen Gründen enge Häuserschluchten, aber sie sind dennoch freundlich und laden zum Bummeln ein. Helle Fassaden, die zierlichen, verglasten Alkoven, Geschäfte, Bars mit Tischen und Stühlen davor hauchen den Schluchten Leben und Lebensfreude ein. Toledos Straßen sind, abgesehen von einigen touristischen Brennpunkten, leblos. Schwermütig und gedrückt wirkt sie auf den Chronisten, während die Reiseleiterin, ihrem Naturell entsprechend, Lichtpunkte entdeckt. Wer spanische Filme gesehen hat mit immer gravitätischen und schwerblütige Protagonisten in schwarz möblierten Räumen, bekommt einen Eindruck von Toledo, wie wir es erleben. Die Stadt wirkt auf den Chronisten wie eine jener schwarz gekleideten kastilischen Damen mit schwarzem Spitzenhäubchen und einem schwarzen Fächer vor dem Gesicht: Eine gramgebeugte Gestalt, aber keine Trauergestalt – Don Quijote wurde nicht in Toledo geboren.  

Was bleibt sonst in unserer Erinnerung von dieser Stadt? Ihre prächtige Lage über dem Tajo, vor allem die Parkanlage, die sich anmutig gestaltet vom Tajo bis in die Stadt hochzieht, mit weit geschwungenen Flanierwegen und teilweise atemberaubenden Aussichtsplätzen auf den Fluss, ansonsten Klöster, Kirchen, eine Kathedrale, ein mächtiger Alcázar und Damaszenerläden. Toledo galt über alle Zeiten hinweg als Hochburg der Waffenschmiedekunst. Toledostahl war ein Markenzeichen in der gesamten damaligen Welt. Schon die Römer versorgten ihre Truppen mit Waffen aus Toledo, und auch Karl V. ließ seine Waffen in Toledo fertigen. Während der Maurenherrschaft gelangte die Waffenschmiedekunst zur höchsten Reife, als es gelang, Golddrähte und fein geschnittene Ornamentteile aus Stahlblech in die Klingen einzuschmieden und sie auf diese Weise zu kostbaren Kunstwerken zu machen. Waffengeschäfte findet man folgerichtig eines neben dem anderen auf den touristischen Rennstrecken, und der Chronist fragt sich, wer denn all dieses teure Zeug kauft, damit die Geschäfte überleben können.

 

Die Waffengeschäfte sind meist flankiert von einem weiteren Markenzeichen Toledos: Marzipan oder Mazapan. Im 8. Jh. brachten die Mauren das Marzipan als Delikatesse nach Toledo. Die Leute hier fanden wohl schnell Gefallen an der deftigen Leckerei und machten sie neben der Toledo-Hardware (Klingen) als Toledo-Software zu einem weiteren Markenzeichen der Stadt.

 

Und dann kommt man kaum an Doménikos Theotokópoulos vorbei, kurzerhand als der Grieche bezeichnet: El Greco. 1541 auf Kreta geboren, erhielt er in seiner Heimat eine Ausbildung als Ikonenmaler und kam nach einem längeren Aufenthalt in Italien 1576 nach Spanien und Toledo. Bis zu seinem Tod im Jahre 1614 hinterließ er eine große Zahl religiöser Gemälde und Portraits in Kirchen, Klöstern und Adelshäusern, wurde, obwohl zugereist, zum größten Söhn Toledos und zum Namensgeber für Restaurants, Museen Gesundheitseinrichtungen und – Campingplätzen.

 

Den Chronisten quälen in dieser Stadt Beklemmungen, die Reiseleiterin verspürt Hunger. Die Suche nach dem, was wir überall schnell gefunden haben, einen kleinen Platz mit Bars und Kneipen und fröhlichen Zechern finden wir nicht. Offenbar gefällt sich Toledo als steinerne Manifestation des Leidens Christi. Fast sehnt sich der Chronist schon nach den nervigen Souvenirshops anderer Tourismuszentralen; die gibt es hier auch, wirken aber ebenfalls ein wenig gedrückt und depressiv. Nach mehreren Links- und Rechtsschwenks durch einige Abseiten der Altstadt, bleiben wir schließlich in einer Bar hängen, deren Namen wir ebenso vergessen haben wie das, was wir dort vorgesetzt bekamen. Wir haben, sofern uns die Erinnerung nicht im Stich lässt, noch auf keiner unserer Reisen so schlecht und lieblos gegessen. Dafür liegt der Preis des Futters in der Nähe eines Premium-Begräbnisses.

 

Mit dem Taxi fahren wir für 6,35 € zurück zum Campingplatz El Greco.  

Wir tun uns schwer damit, die Gefühle, die Toledo in uns auslöste, einzuschätzen und zu sortieren. Wir haben uns noch kaum einmal nach einem Stadtbesuch so leer gefühlt. Noch nie ist uns Geschichte so drückend und belastend begegnet. Wir fragen uns, wie man in einer Stadt leben kann, der alles Leichte fehlt, die nicht klingt und nicht schwingt. Wer einen Eindruck von dem gewinnen will, was wir fühlen und wie Toledo auf uns wirkte, der muss sich nur die Bilder El Grecos ansehen; so sinister, so gequält haben wir diese Stadt empfunden: Gothic-City.  

Aber wir dürfen nicht ungerecht sein, denn es ist nicht auszuschließen, dass die gerade erst vollzogene Trennung von den Cheetahs in uns einen Phantomschmerz hinterließ, der auch fröhlicheren Städten als Toledo das Schummerlicht einer Krypta verliehen hätte. Ganz von der Hand zu weisen ist diese Interpretation nicht, denn selbst die eindeutig leichtfüßigere Reiseleiterin verspürt eine große innere Leere, deretwegen sie heute nur noch einen kurzen Spaziergang mit ihren Mädels unternimmt, weil sie lieber mit dem Fleckvieh aus der Finca flanieren würde wie einst Brigitte Bardot in St. Tropez. Es wird noch ein bisschen dauern, bis der Trennungsschmerz verwunden ist.  

Immerhin ein Lichtblick: The Wetter is getting better; es wird immer schöner und angenehmer. Um 20 Uhr ist der Himmel blau und die Lüfte sind lau. Die Reiseleiterin schläft und der Chronist verfasst den Rest der Gepardiologie. Auch eine Art Trauerarbeit.  

NP Monfragüe / Costa de Lavos
Cheetah’s Rock