Der Bairische Blues fährt ins Blaue - und ist dann mal weg

Schriftgröße: +
13 Minuten Lesezeit (2583 Worte)

Aveiro / Vila Nova de Gaia

Aveiro

Sonntag, 3.4.2022

Wir gönnen uns ein Entscheidungsmoratorium und steuern, wie bereits mehr oder weniger beschlossen, Porto an. Aber überstürzen wollen wir nun auch nichts: Gut Ding will bekanntlich Weile und keine Eile haben.  

Bei 16 °C und einem Himmel, so blau wie portugiesische Azulejos, verlassen wir den Stellplatz von Costa de Lavos um 11:30 Uhr. Auf unserem Weg nach Porto liegt ein Ort, von dem wir meinen, dass er einen Besuch wert ist, vor allem, weil er nicht in das Bild historischer Festungen und Kathedralen passt: Aveiro.  

Die Anfahrt gestaltet sich ein wenig mühsam, was vorwiegend daran liegt, dass wir noch immer nicht herausfinden konnten, wo wir unsere Daten für die E-Toll-Autobahnen hinterlegen können, aber auch nicht wissen, welche Maut-Autobahnen mit Ticket befahren werden können. Um ehrlich zu sein, haben wir uns auch nicht ernsthaft mit der Lösung dieses Problems beschäftigt, weil wir immer gerne über Land fahren, schon gar, wenn nur kurze Strecken zu überbrücken sind. Doch heute hätten wir nichts gegen eine Autobahn einzuwenden. Von Costa de Lavos bis Aveiro reiht sich ein Dorf an den nächsten Ort und das nächste Städtchen, Kreisel folgt auf Kreisel, Geschwindigkeitswechsel von 50 km/h auf 70 km/h und auf 30 km/h und wieder auf 50 km/h machen aus einer Autofahrt ein nerviges Stop & Go.  

Doch als wir uns um 13 Uhr nach 75 Kilometern Aveiro nähern, haben wir das Gefühl, eine Zeitreise rund tausend Kilometer in den Norden und in die Bretagne gemacht zu haben: Um uns herum ein riesiges Marschland, von unzähligen Kanälen und Salzlagunen durchzogen. Die Salzbecken scheinen derzeit eher Grünspan zu produzieren, so versumpft sind sie. Ob in ihnen tatsächlich noch Salz geerntet wird, können wir uns aktuell kaum vorstellen. Unter einer Autobahnbrücke bietet die Stadt einen Stellplatz [N 40° 38' 38,1'' W 008° 39' 32,0''], den zartbesaitete Leute wie wir eher nicht zum Übernachten benutzen würden, aber für einen Stadtbesuch liegt er zentral und ideal. Sogar der Sonnenschein kann unseren Mädels unter der Brücke nichts anhaben.  

Aveiro liegt an einer Lagune namens Ria de Aveiro. Verschiedene Funde belegen schon eine vorgeschichtliche Besiedelung an dieser Stelle, erstmals erwähnt wird der Ort im Jahr 959. Alle Zeiten hindurch lebte der Ort vom Fischfang, der Salzgewinnung und der Ernte von Seetang und Algen zur Herstellung von Düngemitteln. Diese Wirtschaftszweige sind jedoch im Laufe der Jahrhunderte, nicht zuletzt durch die zunehmende Verlandung der Lagune, immer weiter zurückgegangen. Geblieben sind die speziell für diese Bewirtschaftung entwickelten Seetang-Boote, die Barcos Moliceiros, mit denen heutzutage die Besucher durch die zahlreichen Kanäle der Stadt geschippert werden. Wegen dieser Kanäle und Boote ist die Stadt auch als „Venedig Portugals" bekannt.  

Schon wenige Meter aus dem Stellplatz heraus, stehen wir mitten in der Kanal- und Gondelwelt Aveiros. Neben dieser einzigartigen Attraktion steht Aveiro aber auch für Jugendstil: Viele Gebäude der Stadt stammen aus der Belle Époque, als reich gewordene Auswanderer aus Brasilien zurückkehrten und die Fassaden ihrer Häuser und Paläste in diesem neu erworbenen Stil gestalteten. Manche von ihnen haben es verstanden, den Jugendstil mit der traditionellen Kunst der Azulejos sehr geschmackvoll auf eine neue Ebene zu heben. Dort zeigt Aveiro sein schönstes Gesicht.  

Allerdings wollten sich bei weitem nicht alle, und schon gar nicht über die vergangenen hundert Jahre hinweg, mit solchen ästhetischen und finanziellen Herausforderungen belasten, und so präsentiert Aveiro einen oft geschmacklosen, teilweise geradezu abenteuerlichen Stilmix: Schmalbrüstige und fragil wirkende Azulejo-Fassaden verschwinden um Luft ringend zwischen prächtigen Jugendstilfassaden und quadratisch-praktisch-hässlichen Zweckbauten. Der Chronist bekommt bei solchen städteplanerischen Todsünden Schnappatmung, aber die Reiseleiterin sieht darüber geflissentlich hinweg. Sie sieht nur, was ihr gefällt, alles andere sieht sie nicht: Sie macht sich die Welt, widdewidde wie sie ihr gefällt.  

Trotz allem ist Aveiro auch in den Augen des geschmäcklerischen Chronisten mehr schön als missraten; es bleibt noch genug Sehens- und Schätzenswertes. Wir streifen herum und wundern uns nicht, dass es in diesem touristisch begehrten Ort jede Menge Bars, Cafés und Shops gibt, die alle gut besucht sind, weil heute Sonntag ist und die Portugiesen ihre Ausflüge machen. Zu einer Bootsfahrt lassen wir uns aber nicht überreden, auch wenn wir reichlich Angebote bekommen.  

Um 14:30 Uhr haben wir den Eindruck, nicht mehr sehen zu müssen und fahren weiter in Richtung Porto, wo wir einen der vier Campingplätze im Vorort Vila Nova de Gaia im Visier haben, von wo aus man mit Bus oder Rad zügig nach Porto kommt.  

Doch von zügig kann auf dieser Fahrt nun überhaupt nicht die Rede sein. Als ob uns die Stadt fernhalten wollte, mutet sie uns immer schlechtere Bedingungen zu. Zu der endlosen Passage durch ineinander gewachsene Ortschaften, Kreiseln und Geschwindigkeitsbeschränkungen kommen nun auch noch immer schlechtere Straßenverhältnisse. An Schlaglöcher gewöhnt man sich auf der Iberischen Halbinsel schnell, doch auf dieser Strecke sind es die tiefergelegten Kanaldeckel, die mindestens alle 50 Meter genau in der Straßenmitte, dort, wo der Franz sein linkes Geläuf hat, zwischen fünf und 15 Zentimeter unter Flur verlegt sind. Versucht der Chauffeur nach links auszuweichen, steht er mitten im Gegenverkehr, der am Sonntag mit jedem Kilometer in Richtung Porto immer dichter wird. Rechts stehen ihm meist hohe Bordsteine im Weg. Auf das schöne Aveiro folgt ein schmerzverzerrtes Auweia.  

Falls es unter unseren Verfolgern auch Liebhaber des Radrennsports gibt, ist ihnen bestimmt das Eintagesrennen von Paris nach Roubaix geläufig, das jährlich Mitte April stattfindet. Die Besonderheit dieses über 250 Kilometer langen Rennens ist das meist miserable Wetter, teilweise bitterkalt und mit Schnee, vor allem aber sind es die rund 52 Kilometer auf Kopfsteinpflaster, das Mensch und Maschine bis zum Zusammenbruch zermürbt. Warum erwähnt der Chronist das? Weil dieses Rennen wegen der unsäglichen Bedingungen landläufig als „Hölle des Nordens" bekannt ist. Wir poltern und holpern heute durch unsere ganz persönliche Hölle des Nordens, allerdings der Hölle des portugiesischen Nordens.  

Und als ob diese Fahrt nicht schon Hölle genug wäre, stehen wir auf den letzten fünf Kilometern vor unserem Campingplatz im Stau; die Portugiesen gehen Strandflanieren und Kaffeetrinken, das heißt, die einen kommen gerade mit uns an, die anderen fahren schon wieder ab. Also: Stau in beiden Richtungen, ein- und ausparkende Autos, parkplatzsuchende Autos, querende Fußgänger...  

Um 16:30 Uhr haben wir es endlich geschafft, den Stau zu verlassen und in die Einfahrt von Camping Orbitur Canidelo zu steuern. Die Schranke ist offen, wir fahren durch, die Reiseleiterin geht zur Rezeption und der Chauffeur stellt den Franz auf die Servicestation, weil das in der engen Zufahrt der einzige Platz zum Verweilen ist. Und wenn man schon so günstig steht, kann man gleich mal Wasser laden, was uns in Costa de Lavos ziemlich ausgegangen ist. Dann kommt die Reiseleiterin zurück mit einem Gesicht, das an verbrannte Mandeln erinnert: Kein Platz frei! Dabei haben wir morgens noch angerufen, weil wir wussten, dass die Campingplätze hier gut besucht sind. Und bei diesem Anruf versicherte man uns, dass wir einen Platz bekommen würden: ziemlich voll, aber kein Problem. Nun kann sich niemand an einen Anruf oder einen Namen erinnern. Sorry... Zum Dank packen wir noch unsere Klokassette aus und lassen ihnen unseren Sch... hier. Und einen entsprechenden Eintrag im „Trittabweiser" versprechen wir ihnen auch noch. Unseren Verfolgern empfehlen wir schon an dieser Stelle: Macht einen großen Bogen um Camping Orbitur Canidelo!  

Wir stellen uns wieder in den Stau, was gar nicht so einfach ist, weil man als Linksabbieger erst einmal auf die Straße gelangen muss, freiwillig lässt einen an einem solchen Tag niemand raus, da muss man schon ein wenig nachhelfen und nachdrücklich werden. Es geht wieder ein Stück zurück. Um 16:45 Uhr finden wir im Camping Parque Salgueiros Aufnahme [N 41° 07' 15,1'' W 008° 39' 37,7'']. 146 Kilometer sind wir heute gefahren, unter Bedingungen, die wir uns so nicht vorgestellt hatten, als wir morgens frohen Mutes in den Franz gestiegen sind.  

Auch dieser Campingplatz ist erwartungsgemäß voll, aber einige wenige, oft sehr knappe Parzellen gibt es noch. Viele Stellflächen befinden sich unter oder zwischen niederwüchsigen Pinien, was die Platzsuche nicht erleichtert. Wer allerdings auf die Idee gekommen ist, die Stellflächen untereinander und gegenüber den sowieso schon engen Zufahrten, mit zehn Zentimeter hohen Pflastersteinen abzugrenzen, muss einen Steinbruch zuhause haben. So einen Irrsinn sieht man selten. Nach mehreren Anläufen und Versuchen stehen wir endlich und der Platz-Hiwi öffnet uns den Stromverteiler, damit wir von den üppigen 2 Amp., die noch verfügbar sind, naschen können. Die 10-Amp.-Anschlüsse sind nachvollziehbar alle vergeben. Vorsorglich weist er uns darauf hin, dass Kaffeemaschine oder Haarfön damit nicht betrieben werden können. Darauf wären wir von selbst nicht gekommen, bedeuten ihm aber, dass wir einen Wechselwichtel haben, der das für uns richten wird.  

Kaum, dass wir angekommen sind, setzt ein wenig Regen ein, der aber das wegen der abenteuerlichen Fahrt, vor allem aber wegen der Orbitur-Bande, erhitzte Gemüt des Chauffeurs nicht kühlen kann. Auch der Gin Tonic, den die Reiseleiterin ihm fast schon mit Abstellen der Franzenmaschine ungewohnt schnell und mit süßen Worten serviert, stimmt ihn nicht milde: Scheiß auf das Scheiß-Porto, ja, so sind seine Worte, auch wenn sie nicht gesellschaftsfähig sind. Morgen fahren wir weiter! Nichts wie weg hier!  

Die Dogwalkerin nimmt ihre Mädels hinunter an den Strand, der sich nur gute fünf Minuten vom Campingplatz, jenseits der Straße, ausbreitet. Der Chauffeur schenkt sich noch einen Gin Tonic ein und inspiziert anschließend die Sanitäranlagen: alt, verbraucht, ohne Klodeckel (Frankreichreisende kennen das) und Klopapier. Auch das ist für Frankreichfahrer die Norm, aber in Spanien und Portugal der weiße Rabe. Alle Toiletten auf den Campingplätzen waren bislang mit Klopapier ausgestattet, nur diese hier nicht. Immerhin: Es scheint alles einigermaßen sauber zu sein. Man wird sehen.  

BRASÃO

Als die Dogwalkerin zurückkommt, hat sie ein Geschenk für den Chronisten dabei: Wir gehen heute essen! Sie hat ein Restaurant am Strand entdeckt, das im TripAdvisor geradezu euphorisch besungen wird. Es gibt untauglichere Pflaster für eine verwundete Seele.  

Und so schlendern wir um 19:30 Uhr hinüber zum Strand und betreten Bar und Bistro BRASÃO. Wir werden von Sofia empfangen, die für uns, trotz des Sonntagabends, einen Tisch hat. Die Fensterfront zieht sich über das gesamte Lokal und gibt den Blick auf die untergehende Sonne frei. Die Möbel sind dunkel, modern und geschmackvoll. Die Wände zieren Bücher und von der Decke hängen Grünpflanzen, die wohl nicht echt sind, weil sie sonst hier wohl kaum gedeihen würden. Der QR-Code-Speisekarte entnehmen wir, dass es vorwiegend Snacks der besseren Sorte gibt. Menüs oder Fleischberge, wie man sie gerade im Norden vielfach vorfindet, werden nicht angeboten.  

Dann stellt sich ein junger Kellner als Luis vor, der uns diesen Abend betreuen wird und dem wir uns gerne mit allen Wünschen und Fragen anvertrauen können. Als erstes fragen wir Luis nach einem Aperitif, und als er uns die Palette aufgezählt hat, entscheiden wir uns, wer hätte es gedacht, wieder einmal für Gin Tonic. Für den Chronisten wird das dann bereits der dritte an diesem Abend sein, aber die aufwändigen Cocktails sind heute nicht nach unserem Geschmack. Die Big Bowl Gin, die uns Luis dann auftischt, enthält allerdings doppelt so viel wie die zwei Gins zuhause. Mit Gurkenscheiben und Pfefferkörnern ist er ein Magenschmeichler, ganz nach dem Geschmack des Chronisten mit seinen heute angegriffenen Magenschleimhäuten.  

Auf der Karte ist uns ein Gericht aufgefallen, das uns noch nirgendwo begegnet ist: Francesinha, einmal als halbe und als ganze Portion, einmal mit und ohne Ei, jedenfalls immer aus dem Ofen. Wir fragen Luis, der die Augen verzückt verdreht und sich als Italiener outet, der auf Pizza und Pasta steht, für Francesinha aber beides stehen lässt. Er klärt uns auf, dass es sich dabei um eine Luxusvariante des französischen Croques handele, mit einem Steak zwischen den feinen Brotscheiben, manchmal ist noch etwas Chorizo eingearbeitet. Es wird im Ofen gebacken und oft mit einer heißen, typischerweise dickflüssigen Sauce aus Tomaten, Bier und Senf übergossen. In vielen Fällen wird die Sauce noch mit Brandy und Weißwein (Vinho Verde) verfeinert. Das bestellen wir, allerdings nicht, bevor uns Luis aufgeklärt hat, wie viel eine halbe oder ganze Portion ist. Mit den Händen zeigt er uns an, womit wir zu rechnen hätten, und dann bestellen wir zwei ganze Portionen, die für den Chronisten noch mit einem Ei obenauf. Um sicherzugehen, dass wir auch wirklich satt werden, ordern wir noch ein Portion Pommes für beide.  

Was dann auf den Tisch kommt, ist kein überbackenes Sandwich à la Toast Hawaii, und auch kein französisches Croque, denn weder ein Croque Monsieur noch ein Croque Madame, kann mit dieser Francesinha in Konkurrenz treten. Angeblich soll erst 2010 eine portugiesische Tageszeitung einen gewissen Daniel David da Silva aus Terras de Bouro als Erfinder dieses Gaumenschmauses erwähnt haben. Nach Aufenthalten in Belgien und Frankreich habe er das französische Croque zu dieser Leckerei entwickelt und ihr den Namen Francesinha in Anspielung auf die „pikanten" Französinnen gegeben haben. Manche bestreiten das und bestehen darauf, dass das Gericht und der Name auf die napoleonischen Truppen zurückginge. Wer auch immer für diese pikante Französin verantwortlich ist, muss einen Sonnenplatz im Himmel bekommen. Begleitet wird die Französin heute von einem kräftigen Vinho Verde aus dem Haus, der sehr süffig über unsere Gaumen gleitet. Zum Ende nehmen wir noch einen Kaffee, für ein Dessert reichen unsere Kapazitäten nicht mehr; wir sind brummsatt und zufrieden wie zwei frisch gestillte Säuglinge.  

Der Service im BRASÃO ist außergewöhnlich: Charmant, ehrlich, zugewandt, aber nie anbiedernd, nie hemdsärmelig, sondern immer mit freundlicher Distanz. Luis ist ein aufmerksamer Begleiter durch den Abend, aber kein Kumpel. Das gleiche gilt für Sofia, die über allem mit lässiger Souveränität schwebt und wacht.  

Für diesen Luxus bezahlen wir 67,40 €. Das ist eine andere Hausnummer als die Perle von Lavos, aber eben auch noch eine ganz andere Qualität. Dort war es eine authentische Fischerkneipe, hier ist es ein Restaurant im Dunstkreis einer Großstadt mit dem Anspruch, großstädtischen Ansprüchen gerecht zu werden. Das ist so gut gelungen, dass wir gleich für morgen wieder reservieren und um den Service von Sofia und Luis bitten, allerdings diesmal an einem Fensterplatz.  

Als wir um 22 Uhr wieder im Camp sind, ist es bei 13 °C ein wenig wolkig und sehr windig – und die Wolken um die Stirn des Chronisten sind wie weggeblasen. Die Reiseleiterin weiß, dass einem Besuch von Porto morgen nichts mehr im Wege steht. Seit heute weiß sie aber auch, dass es gelegentlich von Vorteil ist, einem Gatten kleine, pikante Französinnen zuzuführen. „Her mit den kleinen Französinnen" – manchmal der Reiseweisheit letzter Schluss...  



Porto
Costa de Lavos