Der Bairische Blues fährt ins Blaue - und ist dann mal weg

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Arundel Castle / New Forest Nationalpark

Arundel Castle

Dienstag, 19.4.2022

Um 7 Uhr ist es immer noch so schön wie in den vergangenen Tagen. Wir machen uns ein Abschiedsfrühstück und sagen Bye-bye zu den letzten übriggebliebenen Ostergästen. Und auch Helen ist da. Wir sind uns jetzt sicher, dass ihr gestriger Abschied nur ein Vorwand war, um uns ihr Vogelkärtchen zu schenken und sicherzustellen, dass sie ein Bild von uns schießen kann, bevor wir davonfahren. Der Franz wird ent- und versorgt, und dann geht es los. Helen winkt uns noch nach, bis wir um die Ecke sind.  

Um 12 Uhr sind wir wieder bei TESCO in Wick, um die über Ostern geplünderten Vorräte nachzuladen. Und das dauert eineinhalb Stunden. Um kurz vor 14 Uhr stehen wir dann auf dem Besucherparkplatz von Arundel Castle, nachdem wir für drei Stunden Parkdauer 2,50 £ bezahlt haben [N 50° 51' 13,8'' W 000° 32' 57'']. Es ist stark bewölkt und hat gerade noch 12 °C. Hier ist noch immer viel los, obwohl Ostern vorbei ist; aber Osterferien sind diese Woche noch. Im Schloss, das lernen wir aber schnell, ist der Besucherandrang überschaubar; die meisten Gäste interessieren sich offenbar mehr für den Ort.  

Für die Besichtigung des Schlosses mit Garten zahlen wir pro Person 23 £, eine Gnade der frühen Geburt wird nicht gewährt, also kein Seniorenrabatt. Wir machen uns auf den Weg, der überall von hilfsbereitem Stewards und Stewardessen flankiert ist, die uns jede Frage beantwortet und den Weg weisen, wenn es nötig sein sollte.  

Das, was wir heute Schloss nennen, ist eigentlich eine Burg, und diese Unterscheidung ist generell zum Verständnis einer solchen Anlage wichtig. Wir neigen alle gerne dazu, Dinge, auch solche Sehenswürdigkeiten, zu vergleichen, obwohl sie nicht vergleichbar sind. Wenn wir uns als Beispiel das kürzlich aus gegebenem Anlass erwähnte Schloss Chambord an der Loire vor Augen führen, verbietet sich eigentlich jeder Vergleich mit Arundel Castle, die beide nur eines gemeinsam haben – dass sie im Englischen castle heißen.  

Der Bau Arundels wurde bereits ein Jahr nach der Landung Wilhelms, des Eroberers, im Jahr 1067 von Roger de Montgomery in Angriff genommen, der von Wilhelm als Dank für seine Dienste in der Normandie Land zugewiesen bekam. Es war eine Verteidigungs- und Festungsanlage, die vor allem die Mündung des Aruns vor Invasoren schützen sollte, und erfüllte unter diesem Aspekt ihre Aufgabe. Solche Burgen hatten auch oft die Aufgabe, die umliegende Bevölkerung bei einem Angriff zu evakuieren und in der Burg zu schützen. Erst später, als sie wegen der rasanten Entwicklung der Waffentechnologie diese Verteidigungsaufgaben nicht mehr erfüllen konnten, wurden sie zu den herrschaftlichen Wohnschlössern umgebaut, die nur noch zum Leben und Repräsentieren taugten.

Das Schloss Chambord wurde Anfang des 16. Jh. erbaut, also rund 500 Jahre später und war vom ersten Spatenstich an als Luxusabsteige für Franz I und seinen Hofstaat geplant. Dementsprechend unterscheiden sich die beiden Castles in der Anlage und in der Ausführung diametral. Chambord ist ein Zuckerbäckerschloss mit viel äußerlicher Prunk, dessen Inneres aber eher dürftig daherkommt: meist leere Räume, Waffensammlungen an den Wänden, Ahnengalerien. Vom Leben im Schloss ist kaum noch etwas zu erahnen. Die einzig wirklich Sehenswürdigkeit ist die doppelläufige, wie eine DNA-Helix ineinander verschlungene, Wendeltreppe von Leonardo da Vinci. Doch darüber hinaus ist mit dem Schloss nicht mehr viel Staat, bestenfalls viel Geld zu machen.  

Arundel Castle war zu allen Zeiten eine Burg und später ein Schloss, in dem gelebt, geherrscht und Geschichte geschrieben wurde. Nach Montgomery fiel das Schloss unter Henry I an die Krone, der es dann seiner zweiten Frau und deren Familie vermachte, bis es unter Henry II wieder an die Krone fiel. Nach dessen Tod ging die Burg an Richard I (Löwenherz). Über alle Zeitläufte hinweg wurde sie so zu einem Herzstück der englischen Geschichte. Seit 1141 bis heute ist sie der Sitz des Earls of Arundel, der seit 1660 auch den Titel Duke of Norfolk trägt. Der 2. und 3. Earl waren entscheidend am Aufstand der Barone gegen König Johann Ohneland (Bruder von Löwenherz) beteiligt, der erst mit dem Beschluss der von Johann unterschrieben Magna Carta ein Ende fand. Die beiden Earls waren auch Mitglieder des Komitees der 25 Barone, die für die Umsetzung deren Beschlüsse sorgen sollten. Schon dieser kleine Ausriss aus der Vergangenheit zeigt, dass in Arundel Geschichte geschrieben wurde. Von Chambord kann man das nicht behaupten.  

Der Rundgang durch die Burg lässt keine Wünsche übrig. Einerseits bekommt man alle die Einrichtungen zu sehen, die über die Jahrhunderte zu Verteidigungszwecken entstanden und vielfach noch bestens erhalten sind. In diesem Zusammenhang ist The Keep von besonderem Interesse, dem Hauptturm der gesamten Anlage, der dem französischen Dojon entspricht. Neben der notwendigen Wehranlagen, sind hier die Wohn-, Schlaf, und Versorgungsräume noch bestens erhalten, auch der Brunnen, der für die Wasserversorgung im Falle einer Belagerung zuständig war. Ein besonderer Blickfang ist das filigrane, mosaikartige Mauerwerk des Keep, das aber auch große Teile der Kernburg ausmacht: Sussex-Flint, also Feuersteine, die in einer mühsamen Puzzlearbeit zusammengesetzt sind. Sussex-Flint, so lassen wir uns von einem der immer auskunftsbereiten, englisch würdevollen, aber äußerst freundlichen Human Guides, der jeden Audioguide verstummen lassen müsste, erläutern, war seinerzeit das wertvollste und begehrteste Baumaterial, unter allen Feuersteinen der beste. Die nicht „befeuerten" Mauern der Burg sind aus französischem Sandstein.  

Die Wohnräume und Schlosssäle, alle komplett eingerichtet, vermitteln einen sehr authentischen Eindruck vom Leben durch die wechselvollen Zeiten. Die kraftstrotzende Eichendecke der 40 Meter langen und 15 Meter hohen Baronenhalle, des Kernstücks all dieser Räumlichkeiten, ist das Kraftzentrum des Schlosses und scheint unter der Last der Jahrhunderte noch so robust wie eh und je zu sein. Dazu die Kamine, die Möbel, wertvollstes Tafelsilber, unbezahlbare Wandteppiche, Gemälde und besondere Artefakte aus der viktorianischen Zeit, alles original und in bestem Zustand.  

Ein besonderer Blickfang ist für uns die Ahnengalerie der Earls und Dukes mitsamt ihren Damen bis zum heutigen Hausherrn, die sich durch das gesamte Schloss zieht. Ohne sich ihre Lebensdaten anzusehen, verraten die Gemälde viel über die Zeit, in der sie lebten und wirkten. Manieristische, klauenartige Finger weisen auf das späte 16. Jh. hin, einer gibt sich als Ludwig XIV aus, ein anderer gefällt sich als Johann Sebastian Bach und wieder ein anderer sieht aus wie ein Bruder Goethes. Sie alle waren Kinder ihrer Zeit, selbstverliebt und doch nur Epigonen der jeweiligen Mode. In dieser Hinsicht waren die Großmächtigen auch nur Nachäffer, kleinkariert und ohne eigenes stilbildendes Format.  

Dazwischen stößt man überall auf Devotionalien der Royals, wie etwa der Krönungsmantel Elizabeths II. In der 37 Meter langen Bibliothek aus Mahagoni werden 10.000 Bücher aufbewahrt, weitere rund 7.000 befinden sich in der Privatbibliothek des 18. Dukes of Norfolk, der heute, wie alle seine Vorfahren, hier residiert. Die Privaträume der Familie, zu denen auch die Suite gehört, die extra für den Besuch Königin Victorias und ihres Gatten Albrecht im Jahr 1846 eingerichtet wurde, sind nachvollziehbar nicht zu besichtigen. Besonders beeindruckt uns der prachtvolle Speisesaal, der mit seinen Lanzettfenstern eher an eine Kapelle erinnert als an ein Esszimmer. In diesem Raum befindet sich auch der Krönungshuldigungsstuhl von Königin Victoria und, vielleicht wegen eines möglicherweise schlechten Gewissens, bescheiden im Hintergrund platziert, eine Glasvitrine mit dem Rosenkranz, den Maria Stuart bei ihrer Hinrichtung trug.

Für den Besuch Victorias wurde das ganze Schloss modernisiert und auf Hochglanz gebracht. Nicht nur die bereits erwähnte Suite wurde neu gebaut. Weil die hohen Herrschaften das ganze Schloss als zu dunkel, zu kalt und zu unfreundlich empfanden, scheute der damalige 13. Duke of Norfolk keine Kosten und Mühen, um es den Royals gemütlich und ihren Wünschen entsprechend „royal" herzurichten. Die freundliche Note zum Ende ihres Besuchs über den angenehmen Aufenthalt und freundlichen Empfang im Schloss, scheint zu belegen, dass der Duke ihren Geschmack getroffen hatte. Wer möchte kann sich das viktorianische Schlafgemach gegen einen kleinen Aufpreis von 8 £ auch noch ansehen. Wir finden, dass eine royale Furzkuhle nicht so viel Geld wert ist, der Rest ist den Eintritt zu hundert Prozent wert.  

Einen ganz seltsamen Eindruck hinterlässt bei uns die hauseigene Kapelle, in der alle Earls und Dukes in meist sehr aufwändig gestalteten Marmor-Sarkophagen ihre letzte Ruhe gefunden haben. Der Chronist, der oft genug nicht nur ein finsterer Spötter und Häretiker ist, sondern in der Tiefe seiner zerzausten Seele auch ein heimlicher Grufti, fragt sich dennoch angesichts dieser versteinerten Leichenschau, ob er in diesem Haus Duke sein und jeden Sonntag beim Kirchgang seinen baldigen Ablageplatz sehen möchte.  

Wir drehen anschließend noch eine Runde durch die wirklich beeindruckenden Gartenanlagen, die allerdings dennoch nur bescheidene Begeisterung auslöst, weil, jahreszeitlich bestimmt, tausend Tulpen dann doch eine gewisse floristische Ermüdung hervorrufen. Dennoch: Die Gärten von Arundel sind eine Augenweide und sollten bei jedem Besuch unbedingt auf dem Zettel stehen.  

Zum Schluss unseres Rundgangs erleben wir wieder einmal eine Kostprobe typisch englischer Umgangsformen. Als wir uns ungeschickt, aber ohne Hintergedanken, offenbar beim Rückweg auf Abwegen zu begeben scheinen, genau genommen in Richtung der herzoglichen Privatwege, nähert sich uns eine der vielen Stewardessen mit den Worten: „From this point you have some options..." und dann erläutert sie uns, dass wir diesen Weg oder jenen wählen könnten, um den Ausgang zu finden. Sie käme nie auf die Idee, uns mit finsterer Miene zu bedeuten, dass wir hier nichts zu suchen und möglichst fix umzukehren hätten, nein, sie weist uns auf some options hin, die wir haben.  

Der Ort Arundel selbst, dem wir noch einige Minuten unserer inzwischen schon fast abgelaufenen Parkzeit gönnen, ist dem Schloss keineswegs gewachsen. Es ist einer jener kleinen, aus der Zeit gefallenen Orte, die durch den Tourismus künstlich am Leben gehalten werden. Anders ausgedrückt bedeutet das: Hübsche alte Häuser, deren Dachfirste nur deswegen nicht bis zu den Grundmauern eingesackt sind, weil sie im Erdgeschoss von Pubs, Cafés und Souvenirläden am Einsturz gehindert werden. Aber offenbar ist es gerade diese am endgültigen Verfall verhinderte Morbidität, die uns in Scharen anzieht.  

Kurz nach 16 Uhr sind wir wieder beim Franz und den Mädels mit der Gewissheit, dass die Besichtigung von Arundel Castle eine derjenigen war, die es sehr wert war, sich die Zeit zu nehmen. Unter diesen Umständen missstimmt es uns auch nicht, dass während unseres Aufenthalts ab und zu etwas Regen vom Himmel fällt.  

Um 16:15 Uhr geht es weiter gen Westen, heute auf überwiegend sehr angenehmen, oft auch über mehrspurige Straßen der Kategorie A, vorbei an Chichester, Portsmouth und Southampton. Allerdings ist der Verkehr auch heute dicht bis verstopft, sodass wir uns nicht nur in einem Stau entspannen können. Und auch Regen bleibt uns nicht erspart; aber wir sind ja in England, also bitteschön, schließlich können wir uns bislang nicht beklagen. Unser Ziel ist der New Forest Nationalpark, den uns die von uns liebevoll skizzierten, netten Nachbarn mit dem Hang zur gemütsstabilisierenden Nahrungsaufnahme während der Arbeit dringend ans Herz gelegt hatten. Und dort wäre der Red Shoot Camping Park der ultimative Tipp – weil es auf dem auch einen hervorragenden Pub gäbe.  

So kommen wir um 18:20 Uhr in Linwood und dem Red Shoot Camping Park an, nicht ohne uns sicherheitshalber auf der Fahrt erkundigt zu haben, ob es für uns noch einen Hocker gibt. Es gibt einen solchen, allerdings sollten wir bis 18 Uhr vorfahren, weil die Rezeption dann schließt. Das haben wir wegen der Staus nicht geschafft, aber nun sind wir da und man hat auf uns gewartet [N 50° 53' 03,3'' W 001° 44' 03,8'']. Das schafft eine gute Stimmung auf allen Seiten. Wir werden eingewiesen, es wird uns alles erklärt, wie das in England so üblich scheint; woanders heißt es entweder Platz XY, den man sich dann anhand eines Plans selbst sucht oder: Such dir einen freien Platz. In UK wird man dagegen häufig zum Stellplatz geleitet, indem man hinter dem Follow-Me-Beauftragten her rollt, bekommt einen OK-Daumen, wenn man korrekt steht, und wird dann kurz über die Dos und Don'ts auf der Anlage aufgeklärt. Red Shoot besteht größtenteils aus Rasenplätzen, einige Pitches sind gekiest. Wir stehen auf Rasen. Alles ist sehr gepflegt und sauber. Zum Platz gehört ein sehr gut bestückter Laden mit Frühstücksservice. Nur beim Internet gibt man sich sehr anspruchslos; viel weniger Netz als hier hatten wir selten. Die Nacht kostet all inclusive 35 £.  

Kaum hat die Dogwalkerin die Mädels richtig in Bewegung gebracht, beginnt es zu regnen, englisch, dicht drisselnd und anhaltend. Falls wir zum Abendessen Hot Dogs geplant hätten, müssten wir jetzt auf Wet Dogs umdisponieren.  

Um 19:10 Uhr fühlen wir dem „excellent" Red Shoot Inn auf die Zähne. Es ist eine ansprechende Kneipe, schön, aber nicht so urtypisch wie etwa das Coolpack; dazu hat es ein paar Jahrhunderte zu wenig auf dem Buckel. Aber unverkennbar britisch ist sie mit der langen Theke, den Spiegeln... wie es sich eben gehört. Die Speisekarte hat auch nichts mit dem zu tun, was man gewöhnlich in einem solchen Etablissement erwartet, hier weht schon ziemlich viel Lifestyle durch die Küche, wie etwa Asian Soba Noodles, bei deren Verzehr man angeblich abnimmt. Viel Vegetarisches, Veganes und Angesagtes geistert durch die Speisekarte (Crispy buttermilk chicken burger) – und hinter jedem Gericht findet man eine Kalorienangabe. Was man nicht findet ist Kidney-Pie oder Cottage-Pie, und auch der eigentlich unverzichtbare Yorkshire-Pudding führt ein verschämtes Außenseiterleben als Extrabeilage zum Sunday-Roast für 1 £ (139 kcal). Wir decken die Kalorienspalte ab und bestellen einmal den Beefburger „Henry" und einmal Smoked Wiltshire Ham mit Chips, dazu je zwei Pint, das macht satt und rund ohne schlechtes Gewissen und summiert sich auf eigentlich recht bescheidene 40 £.

Wir rollen in unsere Betten, sind absolut zufrieden, auch, weil wir wieder eine neue Pub- Variante kennengelernt haben. Wozu sonst kommt man hierher? Wegen der alten Gemäuer, der Pubs und, zwecks Verdauung, der sehenswerten Landschaften. Nach Gemäuern und Pubs fehlt jetzt noch die Landschaft. Damit beschäftigen wir uns morgen.  

New Forest Nationalpark
Arundel