Der Bairische Blues fährt ins Blaue - und ist dann mal weg

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New Forest Nationalpark

New Forest

Mittwoch, 20.4.2022 

Morgens um 9 Uhr redet niemand mehr von Regen, es hat sonnige 12 °C.

Vor, während und nach dem Frühstück beschicken wir die „Speed Queen", die superschnellste Waschmaschine, gleich nach Speedy Gonzales, mit unserer Wäsche und sind tatsächlich schon kurz nach 12 Uhr komplett durch. Und sauber wäscht die „Speed Queen" auch noch, was man nicht allen Campingplatz-Waschmaschinen zugestehen kann. 

Von einem der Waschgänge kommt die Reiseleiterin etwas verwirrt zurück, weil ihr eine englische Urlauberin bei einem der vielen Smalltalks „Como" als unbedingtes Ziel ans Herz gelegt hat. „Hast du schon mal etwas von Como gehört?", fragt sie den polyglotten Chronisten. „Klar, Italien, Comer See..." „Nee, hier. Die Frau sagte, wir müssten unbedingt nach Como." Es beginnt eine etwas uninspirierte, weil hilflose Suche im Internet und auf Google Earth nach dem geheimnisvollen Ort Como in UK, die nach etwa einer halben Stunde ergebnislos abgebrochen wird. Kein Como weit und breit. „Mal sehen", beschließt die Reiseleiterin die Suche, „vielleicht treffe ich die Dame nochmal, dann frag' ich nach." Dabei bleibt es für den Moment.  

Wenn man sich an der Rezeption Info-Material über den Nationalpark besorgt, bekommt man unter anderem zwei Wanderwege ausgehändigt – beide enden an einem Pub. Was soll man in einem solchen Fall machen? Eine Pub-Wanderung angehen, natürlich, was denn sonst. Gäbe es wichtigere Gründe, nach England zu reisen als solche Reiseziele? Wer jetzt die Nase rümpft, soll sich mal überlegen, welche Wanderziele man bei uns zuhause wählt...  

Um 12:50 Uhr gehen wir los. Der Nationalpark umfasst ungefähr 570 km2, zum größten Teil in Hampshire, zum kleineren Teil in Wiltshire. Ursprünglich war das Gebiet bewaldet, wurde aber schon in der Stein- und Bronzezeit teilweise gerodet, um es landwirtschaftlich zu nutzen. Wegen der schlechten Bodenqualität entwickelte sich aus dem Waldland eine Heidelandschaft. Schon 1079 erklärte Wilhelm I das Gebiet zum königlichem Wald für die Hirschjagd. Noch heute gehören etwa 90% des New Forest der Krone. Zwischenzeitlich war er wichtiger Holzlieferant für die Royal Navy, wozu man die abgeholzten Flächen wieder aufforstete. Während des Ersten Weltkriegs wurden die Laubbäume geschlagen und durch Nadelbäume ersetzt, um schnell neuen Holznachschub zu generieren. Das wiederholte sich im Zweiten Weltkrieg. Inzwischen wird der Prozess umgekehrt und der Stangenwald Stück für Stück wieder durch Laubbäume oder Heideland ersetzt. Heute weiden auf den riesigen Flächen wilde Ponys, Esel und Kühe, die zwar in Privatbesitz sind, aber ihr Leben frei in der Natur gestalten dürfen. Nur einmal im Jahr werden sie zusammengetrieben, auf Gesundheit gecheckt und eventuell Jungtiere herausgenommen.  

Tatsächlich treffen wir überall auf diesen brachen und kargen Flächen auf Ponys und gelegentlich auf Esel. Da sich die meisten Besucher an das Gebot halten, die Tiere weder zu füttern noch zu streicheln, interessieren die sich kaum für uns. Und wir uns nicht für sie. Sogar die Mädels respektieren diese Gesellschaft, die sie von zuhause nur hinter Zäunen kennen, ihnen hier aber unverfroren nahekommt.  

Es ist eine eigenartige Wanderung durch diese Welt, die mitunter an eine Wüste oder eine Mondlandschaft mit Bewuchs erinnert. Weit schweift der Blick über nichts als Heideflächen, die in Kürze in knalligem Lila und Rosa ein Farbenfeuerwerk unter den Himmel zaubern werden. Wir sind leider noch zu früh hier, meist ist das Land noch braun und schwarz, nur der knallgelbe Ginster schafft Entspannung und Vergnügen für das Auge, und knorzige, unter dem ständigen Wind in geriatrische Verrenkungen gezwungene Baumveteranen fangen unsere Blicke. Mal ziehen auf einem Hügel vor uns drei junge Frauen auf ihren Pferden an uns vorüber, zwei entspannt und offenbar mit sich und ihrem Pferd im Einklang, die letzte hat vorwiegend damit zu tun, nicht Hals über Kopf im Heidekraut zu landen, weil der Gaul nur bockt, aber keinen Bock auf Nachmittagsspaziergang hat.  

Um 14 Uhr erreichen wir unser heutiges Ziel, das Alice Lisle Pub. Begrüßt werden wir von einer kleinen Eselherde, die sich um den Garten des Pubs herumdrückt, offenbar in der Hoffnung, dass doch mal etwas für sie abfällt. Das Pub ist ein beliebtes Ausflugsziel, was vor allem die vielen Autos auf dem Parkplatz nahelegen; zu Fuß, wie wir, kamen erkennbar die wenigsten hierher.  

Wir können uns nicht entschließen, ob uns der Sinn nach etwas Mittagsdeftigem oder Nachmittagssüßem ist, und so holen wir uns ein Chicken-Sandwich (to share) und einen Zitronenkuchen (to share), der fast schon deftig-kompakter aussieht als das Sandwich. Dazu gibt es – zwei Guinness! Für dieses Menü der speziellen Art zahlen wir 22 £.  

Während wir im Garten des Pubs sitzen, mampfen und uns wohlfühlen, besucht die Reiseleiterin die Toilette und kommt mit einem froschbreiten Grinsen und einem Foto auf ihrem Handy zurück. Auf dem Abtritt fand sie folgendes Ensemble: Eine Tafel, auf die gekritzelt ist „Alice, who the f*** is Alice? Look to your right to find out." Daneben das alte Portrait einer Dame mit der Unterschrift: „The last woman to be beheaded in England 1685". Wir genießen demnach unsere Nachmittagsjause in einem Haus, das der letzten in England enthaupteten Frau gewidmet ist. Wobei die korrekte Information „öffentlich enthauptete Frau" sein müsste. Alice Lisle war eine strikte Anhängerin der Nonkonformisten und wurde öffentlich hingerichtet, weil sie angeblich Flüchtlingen Unterschlupf gewährt haben soll.  

Solche Schauerlichkeiten erfrischen das Herz des Chronisten fast mehr als der – im übrigen formidable – Zitronenkuchen und er fragt sich, warum solche Gruseligkeiten nur in der britischen Seele zu gedeihen scheinen. Er denkt in diesem Zusammenhang etwa an einen, vorzugsweise im Ober- oder Unterallgäu anzusiedelnden, „Landgasthof Anna Schwegelin". Diese arme Dienstmagd, in Lachen (Unterallgäu) geboren, beschert der Stadt Kempten (Oberallgäu) den zweifelhaften Ruf, jene Stadt zu sein, in der im April 1775 die letzte Frau in Deutschland als Hexe zum Feuertod verurteilt wurde. 1775! In diesem Jahr bricht der amerikanische Unabhängigkeitskrieg aus. James Watt perfektioniert die Dampfmaschine, wie wir sie heute kennen. Euler stellt das Drehimpulsgesetz auf und der Astronom Herschel entdeckt zwei neue Galaxien. In Reims wird Ludwig XVI gekrönt und James Cook landet auf dem Südpol, um nur ein paar Eckdaten des Jahres 1775 zu nennen – und in Kempten wird eine Dienstmagd auf den Scheiterhaufen geschickt. Nun müssen wir allerdings auch ein wenig gnädig sein, wie es offenbar auch die damaligen Autoritäten mit der armen Anna waren: Nach letzten Erkenntnissen wurde sie schließlich doch nicht dem Feuer übergeben, sondern soll 1781 im Gefängnis gestorben sein. Also: Wie wär`s mit einem „Landgasthof Anna Schwegelin"? Verdient hätte die arme Seele eine solche späte Aufmerksamkeit bestimmt.  

Vielleicht sollte, der Vollständigkeit halber, an dieser Stelle erwähnt werden, dass sich die Stadt Kempten möglicherweise für diese exponierte Stellung unter allen deutschen Städten schämt, denn von einer Anna Maria Schwegelin hat der Chronist in all den Jahren, in denen er in Kempten die Schule bis zum Abitur besuchte, nie etwas gehört. Gehört sich so etwas?  

Und dann geht es bei viel Sonne und nur wenigen Wolken wieder zurück, diesmal nicht über die Heideflächen, sondern durch alten Baumbestand und über Wiesen und Weiden. Nach 10,5 Kilometern sind wir um 16:40 Uhr wieder beim Red Shoot Inn und dem Campingplatz. Wir lassen uns vor der Kneipe nieder und genehmigen uns zwei Gin Tonic. Der Reiseleiterin blüht das Heideglück auf den Wangen und dem Chronisten der Schmerz in den Knien.  

Eis für die Mädels

Was ihn jedoch so richtig in die Knie zwingt, ist die unkaputtbare Fianna, die so viele Jahre auf dem Buckel hat wie heute Kilometer in den Läufen und federt vor uns daher, rollt sich vor Heideglück, blödelt mit ihrer Tochter und jagt sie über den Niederwuchs, dass die Kleine kaum noch die Kurve kriegt – dabei ist sie 70, mehr sogar, also ungefähr so alt wie ihr Brötchengeber. Und der leidet am Knie. Nur Fianna leidet offenbar nie! Welch ein Glück ist es, einen so kerngesunden Hund zu haben und mit ihm sechs Monate sorgenfrei reisen zu können (toi, toi, toi). Und nun ruht sie in sich und neben ihrer Tochter, glückssatt und weltentrückt.  

Abends machen wir uns im Omnia Hähnchenbrust mit Gemüseauflauf, schließlich muss ja nicht jeden Tag gepubt werden. Die Reiseleiterin gibt allerdings vor, zu kochen, um die Knie des Chronisten zu schonen (Nach 10,5 km wegen 50 m!), dabei denkt sie nur an die Schonung unserer Reisekasse. Warum auch nicht...  

Salisbury / Stonehenge
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