Der Bairische Blues fährt ins Blaue - und ist dann mal weg

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Widecombe-in-the-Moor

Old-Inn in Widecombe-in-the-Moor

Freitag, 22.4.2022 

Der Parkplatz beim Pub ist, obwohl einsam, dennoch nicht ganz leise, denn die A 36 führt nahe vorbei. Das gilt aber nur bis in die späten Abendstunden und in den frühen Morgenstunden. Nachts ruhen wir ungestört. Damit können wir bestens schlafen und leben.

Kurz nach 11 Uhr verlassen wir den Rainbow-on-the-Lake, der mangels Regen und Sonne nur ein Versprechen blieb. Bei bedecktem Himmel macht sich kein Regenbogen der Welt die Mühe, sich zu erheben. Wir können auch nicht darauf warten, wir müssen weiter.  

Zu Beginn des Tages rollen wir entspannt auf bequemen und teils mehrspurigen Straßen in Richtung Westen. Aber viel Gegenverkehr müssen wir registrieren, eigentlich kriecht eine mehr oder weniger ununterbrochene Schlange auf uns zu: Der Rückreiseverkehr aus den Osterferien beginnt. Heute, am Freitag, sind es die Ersten, die sich nach Hause aufmachen. Wenn das schon zu solchen Schlangen führt, wollen wir lieber nicht wissen, was dann morgen und sonntags los sein wird.  

Unser erstes Ziel heute ist Castle Drogo. Castle Drogo ist das letzte Landschloss, das in Großbritannien gebaut worden ist. Der sich stilistisch an das Mittelalter und der Tudor-Zeit anlehnende Bau wurde 1910 begonnen und 1930 unvollendet beendet, weil das Geld ausgegangen war. Ab 2012 musste der marode Herrensitz einer dringend notwendigen Sanierung unterzogen werden, weil er statisch fragwürdig geworden war. Grund waren Wassereintritte durchs Dach aber auch durch die Fenster, wofür vor allem die nicht angebrachten Fensterbänke die Ursache waren. In dieser Hinsicht hatten die mittelalterlichen Bauherren offenbar mehr Ahnung, was gebraucht wird, als die Nachahmer des frühen 20. Jh. Das Anwesen ist seit 1974 im Besitz des National Trust, der auch vorwiegend die Finanzierung der Baumaßnahmen trägt. Das Schloss selbst ist also nicht die eigentliche Attraktion, zumal wir nicht wissen, ob die Sanierungsmaßnahmen tatsächlich, wie geplant, 2019 abgeschlossen werden konnten. Einen Besuch wert ist ein schöner Garten aus Rhododendren, Magnolien und Staudenrabatten, dazu ein Rosengarten (der jetzt noch nicht blüht) und Ziersträucher aller Art, was alles zusammen einen starken Kontrast zum kargen Bewuchs des Dartmoors darstellt, an dessen Rand das Schloss steht.  

Die erste Ausfahrt von der A 30 versemmeln wir dergestalt, dass wir, unseren Navis folgend, in der Ausfahrt gerade noch aus den Augenwinkeln einen Wegweiser sehen, der Busse zum Castle auf der A 30 weiterführt. Da sind wir schon draußen. Das Sträßlein, das uns nun zum Schloss geleiten möchte, jagt uns kalte Schauer über den Rücken: Nie und nimmer kommen wir dort durch. Es gilt wieder einmal, auf einem Bierdeckel zu wenden. Dann der nächste Versuch, unsere Navis zu einer seriösen Pfadfinderschaft zu überreden, zwei an der Zahl, beide übrigens mit den üppigen Maßen unseres Franz gefüttert. Beim ersten Mal bleiben wir, nach anfänglich durchaus hoffnungsvollem Straßenbild, zwischen einer meterhohen Hecke stecken; rückwärts raus. Beim nächsten Versuch erkennen wir schon, bevor wir uns in den Sträucherdschungel begeben, dass dabei nichts Gutes herauskommen kann; wir schon gleich gar nicht. Die Navis ignorieren einfach die Abmessungen unseres Franz. Der eine Pfadfinder heißt Google Maps, der andere Sygic Truck, den wir extra in Spanien getestet und dort für gut befunden und uns geleistet haben.  

Jetzt reicht es uns, wir drehen um und verzichten auf das Schloss. Doch dann sehen wir auf der A 30 wieder einen Wegweiser für Busse zum Schloss. Dem folgen wir nun hoffnungsvoll. Dann bleiben die Bus-Wegweiser aus und die Navis schicken uns das eine links, das andere rechts – und nun haben wir endgültig die Nase voll, gratulieren allen, denen ein Besuch auf diesem Schloss gelungen ist, vor allem natürlich Wohnmobilisten, die anderen kommen sicher klar, und outen uns als total dröge Drogo-Deppen. Wir haken Drogo ab und finden, dass man auf das neureiche Hybridschloss auch ganz gut verzichten kann. Man muss sich ein Versagen auch verkaufen können!  

Wir fahren weiter ins Dartmoor, wo wir die kommende Nacht auf dem Parkplatz des Old Inn zubringen wollen. Die Straßen ins Dartmoor sind teilweise abenteuerlich eng, verfügen aber gelegentlich auch über Ausweichstellen. Die haben allerdings nichts mit denen zu tun, die wir in Schottland kennengelernt haben. Dort sind sie geräumig und sehr häufig, hier dagegen eher bescheiden. Was aber den entscheidenden Unterschied ausmacht, ist der teilweise meterhohe Bewuchs links und rechts dieser eh schon sehr engen Pisten, oft mit bis an den Straßenkörper gebauten Mauern, sodass man keinerlei Sicht hat. In Schottland kann man die Straße oft weit hinaus überblicken, kann reagieren, sich gegenseitig informieren, wer wartet und wer fahren soll, und so völlig stressfrei auch die engsten Highland-Pisten befahren. Hier im Süden Englands sind nicht nur die Sichtverhältnisse nicht vergleichbar, sondern auch der Verkehr, der jede Sekunde vollste Aufmerksamkeit erfordert. Und natürlich – Murpy lässt grüßen – begegnen einem die dicksten Brocken zuverlässig an den engsten und unübersichtlichsten Stellen. Plötzlich steht er da, der Traktor mit Anhänger, und der, darauf kann man sich verlassen, bremst nicht und weicht nicht aus. Andererseits muss man auch zugeben, dass gerade die Brummifahrer das geringste Problem in diesem Szenario sind: Die wissen genau, wie breit ihre Karossen sind. Vor allem die feinen Herrschaften mit den Luxusmobilen, und von denen gibt es hier weit mehr als anderswo, stechen meist durch, jedenfalls weichen sie nicht aus, um ihren Porsches oder Bentleys auch nicht den geringsten Lackschaden durch Botanikbegegnung zuzumuten. Wäre ja auch schade drum, muss eben der Franz ins Unterholz.  

Aber selbst das ist noch nicht genug des Ungemachs auf diesen Straßen. Wenn Straßen so eng sind, dass man mit einem Franz gerade so klarkommt, spürt man jedes Schlagloch der linken Straßenseite, und davon gibt es mehr als genug, auch solche, die man schon eher als Schlaggruben bezeichnen müsste. Sollte man versuchen, dem Fahrwerk etwas Entlastung zu verschaffen, indem man zur Straßenmitte ausweicht (sofern der Gegenverkehr das überhaupt zulässt), hat der englische Straßenbauer in die Straßenmitte Asphaltnägel mit Katzenaugen geschlagen, über die man nun mit wachsender Gehirnerschütterung rattert. Wer davon überzeugt ist, sein Hirn durch Bewegung fit halten zu können, ist auf diesen Straßen gut aufgehoben.  

Das Dartmoor in der Grafschaft Devon ist eine karge, vornehmlich von Moor und Heide bestimmte Granitlandschaft, von der etwa 950 km² als Dartmoor National Park ausgewiesen sind. Besondere Blickfänge und touristische Anziehungspunkte sind die sogenannten Tors, Hügel mit Felsvorsprüngen, die in Granitland normalerweise abgerundete, boulderartige Formationen sind, hier aber bizarre Felsnasen bilden. Viele Besucher zieht es wegen der zahlreichen Reste bronzezeitlicher Ansiedlungen sowie Steinkreise hierher. Das Dartmoor ist trotz der vielen Besucher ein einsamer und abweisender Landstrich, der vor allem für Schafe und wilde Ponys ein Paradies ist und durch das häufige Abbrennen des Moors mit seinen oft bis an den Horizont reichenden schwarzen „Brandnarben" nicht freundlicher wird. Eine so düstere Gegend liefert gerne den passenden Hintergrund für Literaten und Filmschaffende. Arthur Conan Doyles „Der Hund von Baskerville" ist ebenso hier zuhause wie seine Sherlock Holmes-Geschichte „Silver Blaze". Agathe Christies „The Murder at Hazelmoor" findet hier statt, und auch zwei Geschichten aus der Fünf Freunde-Reihe von Enid Blyton oder der Psychothriller „Das Mädchen aus dem Moor" sind hier angesiedelt.  

Um 14:15 Uhr kommen wir im Dartmoor Besucherzentrum von Postbridge [N 50° 35' 36,4'' W 003° 54' 48,1''] an, um noch ein wenig mehr über das Moor zu erfahren, aber auch, wie wir von hier am besten nach Widecombe gelange, wo wir die Nacht verbringen wollen. Die Karten legen nahe, dass sich der direkte Weg dorthin nicht anbietet. Die Antwort lautet wie vermutet: Wieder zurück und außen herum. Nicht nur wir haben im Moor inzwischen das Vertrauen auf die Navis verloren, nein, auch in allen hier verfügbaren Informationen wird man aufgefordert, tunlichst auf die elektronischen Pfadfinder zu verzichten; Kartenmaterial und -studium erleben im Dartmoor eine Renaissance; wehe dem, der diese Kunst nicht mehr beherrscht.  

So fahren wir also wieder zurück und dann über Bovey Tracey direkt ins Herz des Moors nach Widecombe-in-the-Moor, wo wir um 15:45 Uhr auf dem Parkplatz des Old Inn [N 50° 34' 35,9'' W 003° 48' 46,4''] den heutigen Fahrtag beenden. Dieser Tag endet etwas so ungewöhnlich wie er verlief: Der Chauffeur bekommt, nachdem die Franzenmaschine ihren Dienst beendet hat, einen sanften Klaps aufs Gasknie: Gut gemacht! Anders kann man diese Zuwendung kaum interpretieren, höchstens so, dass auch die Navigatorin heute froh ist, angekommen zu sein. Aber mehr ist auch nicht zu erwarten – oder doch? Tatsächlich geht noch ein bisschen mehr, oder frei nach dem Monaco Franze: A bissel was geht immer. Das Bissel ist ein Glas Gin Tonic, das dem Chauffeur gereicht wird, noch bevor er seine Tagesnotizen, am Steuer sitzend, beendet hat. Na, da rauf darf er sich nun wirklich etwas einbilden.  

Nun sind die Mädels dran, die nun seit beinahe sechs Stunden geduldigen Ausharrens endlich raus und sich austoben dürfen. Die Versuche des Chronisten währenddessen den Blog ein wenig zu aktualisieren, verlaufen, nein, nicht im Sand, sondern im Moor: So was von toter Netzhose hatten wir schon lange nicht mehr; im Chicagoer Zentralfriedhof ist definitiv mehr Leben.  

Also gehen wir, ganz gegen unsere Gewohnheit 🤣, ins Pub, das sehr alt und groß, aber in viele kleine Räume aufgeteilt ist, die auf uns zu warten scheinen, alles sehr gepflegt und auch ein bisschen stylish, dabei topsauber, was uns alles erst richtig spüren lässt, dass wir Hunger haben. Nach dem inzwischen beinahe schon traditionellen Gin vorneweg, bestellt sich die Navigatorin Steak Pie, der Chauffeur Hühnchenbrust, beides mit hervorragenden Chips, vor allem aber mit Gemüse bzw. Salat ohne die langweiligen Erbsen. Die Dame nimmt Cider, der Herr Bier. Das summiert sich auf 55 £. Die Frage im Old Inn kann also nicht heißen, (hier) sein oder nicht (hier) sein, sondern verträgt dein Magen Moor or Less... 😉  

Haytor Rocks / Bovey Tracey
Salisbury / Stonehenge