Der Bairische Blues fährt ins Blaue - und ist dann mal weg

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Kilkenny

Kilkenny

Samstag, 7.5.2022

Der Vormittag ist für frühe Vögel da, nicht für uns; wir wollen lieber noch ein Stück vom Zauber der vergangenen Nacht in den neuen Tag herüberretten.  

Um 12:15 Uhr schwingen wir uns auf die Räder und fahren zum Schloss (Kilkenny Castle), was nur wenige Minuten in Anspruch nimmt. Für Erwachsene kostet der Eintritt 8 €, für reife Erwachsene 6 €. Da das Schloss dem Irish Heritage gehört, die wiederum die Mitglieder des English Heritage akzeptieren, werden wir wieder einmal freundlich durchgewunken, und können schön langsam kaum noch unser Erspartes zählen. Erwähnenswert ist aber auch, dass wir in all diesen Sehenswürdigkeiten nie nach unseren Ausweisen gefragt wurden, weder wegen des Alters noch wegen unserer Identität; auf dem vorläufigen, handgeschrieben EH-Ausweis stehen unsere Namen, aber woher will man wissen, ob das auch wir sind? Wir können uns kaum vorstellen, dass dies in Deutschland genauso locker gehandhabt würde.  

Die Geschichte des Kilkenny Castle reicht zurück ins Jahr 1172, als der normannische Ritter Richard de Clare (Strongbow) am Ufer des Nore eine hölzerne Erdhügelburg errichtete, um den Flussübergang zu kontrollieren. Einige Jahre später ließ William Marshal, der 4. Earl von Pembroke hier eine massive Burg entstehen, die 1213 fertig gestellt wurde. Ende des 14. Jahrhunderts kaufte die Familie Butler das Castle, das fast 600 Jahre in Familienbesitz blieb, ehe sie das Schloss 1935 verließ und das gesamte Mobiliar verkaufte. Im Jahr 1967 überließ James Arthur Norman Butler 24. Graf von Ormonde, seinen Familiensitz für einen symbolischen Betrag von 50 £ der Stadt Kilkenny.  

In den Jahrhunderten dazwischen durchlebte die Burg alle erdenklichen Höhen und Tiefen, Glanz, Zerfall und Wiederaufbau und wandelte sich von einer zweckdienlichen und kalten Burg mit vier Türmen zu einem behaglichen Schloss mit nur noch zwei Türmen, aber vielen Anbauten.  

Vieles von dem, was wir heute besichtigen können, stammt aus dem 19. Jahrhundert und atmet dessen teilweise kitschigen, plüschigen und schwülstigen Charme. Das meiste wurde seinerzeit aus aller Welt zusammengetragen und -gerafft und anschließend in solchen alten Gemäuern mit Stolz präsentiert.  

Seiden-Gobelins wurden über Berberteppiche gehängt, orientalische Trennwände im Chinoiserie-Stil blicken auf maurische Architekturelemente. Besonders auffällig wird dieses Stil-Sammelsurium in der mächtigen Gemäldegalerie. In den Anfängen, im 9. Jh., hatte sie ein Flachdach erhalten, das jedoch mehr und mehr Probleme bereitete, sodass man umfassend nacharbeiten musste. Vier Erker wurden integriert, Maueröffnungen verschlossen und schließlich ein Giebeldach mit Verglasung in der Mitte aufgesetzt. Das hat architektonisch sicherlich viel Sinn gemacht, weil sonst irgendwann die ganze Pracht zusammengestürzt wäre. Eher fragwürdig, aber dem Zeitgeist entsprechend, wurden auf den Querverstrebungen vergoldete orientalische Tier- und Vögelköpfe aufgesetzt, wie man sie von asiatischen Tempeln kennt. Dem Chronisten zieht es unter all den Stilverirrungen gelegentlich fast die Beine weg. Jedes Exponat für sich hat viel Charme, aber im Zusammenklang überwiegt die Disharmonie 

Der bedeutendste Schatz des Schlosses ist jedoch in unseren Augen die Sammlung von feinsten, gestickten Wandteppichen mit mittelalterlichen Motiven im Format 180 x 140 cm. Die Teppiche wurden nach traditionellen Vorlagen gestickt – und am letzten wird noch immer gearbeitet.  

Nach diesem Ausflug ins verplüschte 19. Jahrhundert unternehmen wir einen kleinen Rundgang durch die Stadt. Im Gegensatz zum Schloss ist die Stadt zu großen Teilen in sich schlüssig und mit sich im Einklang, teilweise mittelalterlich, aber nicht zum Museum aufgepeppt, meist zweckdienlich und lebendig: Eine Stadt für die Menschen von Kilkenny und nicht für die Touristen.  

Aber nachmittags hängen schon wieder die ersten Promilleleichen herum; auch das macht Kilkenny aus.  

Schwerer zu ertragen sind die schon wieder überall in Gruppen auftretenden Hens und Stags, schon wieder über den Durst hinaus angereichert. Was gestern bei Matt nicht so sehr aufgefallen ist, sind die heute allenthalben vorgeführten superknappen Schlauchkleider über quellenden Schwellungen, die selbst in den goldenen 70er Jahren die akute Gefahr einer peinlichen Befragung vor der Inquisition mit sich gebracht hätten.  

Eine anderer Blickfang in den Straßen von Kilkenny sind die Familienverbände in feinem Tuch, angeführt von Mädchen in Festtagskleidern, die einem Brautkleid nicht nachstehen. Die Kinder sind herausgeputzt und geschminkt wie zur anstehenden Hochzeit, aber auch die Festgesellschaft lässt es an schillernder Garderobe nicht fehlen. Anlass für diesen Auftritt ist die Heilige Kommunion, die wie auch bei uns, an den Wochenenden zwischen Ostern und Pfingsten gefeiert wird. Die Ausstattung der Kinder (und auch der Erwachsenen) lässt, wie wir uns berichten lassen, Rückschlüsse auf den gesellschaftlichen Rang der Feiergesellschaft zu. Die besonders übertrieben Herausgeputzten, auch die mit den engsten und knappsten Schlauchröcken sind meist Traveller, eine Gesellschaftsschicht, die in Irland nicht immer den besten Ruf hat.  

Traveller sind Fahrende, allerdings nicht mit Zigeunern, also Sinti und Roma, zu verwechseln. Sie sind britischer Herkunft, kommen auch in England und Schottland vor und betreiben meist ein fahrendes Gewerbe. Früher waren sie vorwiegend Kesselflicker, nach welchem Gewerbe sie allgemein als Tinker bezeichnet wurden und auch noch werden. Mit ihrem Planwagen und dem davorgespannten typischen Tinker-Pferd zogen sie über Land und boten ihre Dienstleistungen an. Heute ist damit kein Geschäft mehr zu machen, aber die Traveller blieben Reisende und werden von der Wissenschaft als Inlandsmigranten geführt. Solche Menschen haben und hatten überall auf der Welt in den sesshaften Teilen der Gesellschaften nie einen besonders guten Ruf, den sie leider auch gelegentlich bestätig(t)en. Andererseits erfuhren wir später, dass die Studenten die Traveller gerne in ihrer Nähe sähen, weil die sich um deren Wohlergehen kümmern, sie schützen und dafür von den Studenten Vorteile erwarten dürfen, was eine ganz spezielle symbiotische Beziehung herstellt.  

Traveller sind ultrakatholisch, weswegen man gelegentlich die Empfehlung bekommt, sich eine Holy Mary aufs Armaturenbrett zu stellen, um vor Traveller-Zugriffen sicher zu sein. Niemals würden sie nämlich ein Fahrzeug knacken, das von Mary beschützt wird. Und diese überbordende religiöse Zuwendung führt auch zu den oftmals eher geschmacklosen Auswüchsen in der Festtagskleidung, eine Erfahrung, die man überall auf der Welt machen kann. Nun wissen wir also Bescheid (danke Britta) und können uns wieder unseren eigenen Belangen widmen.  

So sind wir um 15:15 Uhr wieder bei den Mädels und stärken uns bei einem Kaffee, anschließend kommen sie zu ihrem Recht.  

Und um 19:30 Uhr sind wir schon wieder auf den Weg in die Stadt, fest davon überzeugt und voller Hoffnung, dass am Samstag Live-Musik geboten ist. Es ist ziemlich warm, was nach dem vielen Regen sofort zu einem Saunaerlebnis wird. Schon nach wenigen Metern sind wir nur noch in T-Shirts unterwegs, ein Gefühl, woran wir uns kaum noch erinnern können.  

Bei Matt the Miller fragen wir nach, was heute in Sachen Musik geboten sei. Die Antwort: Disco. Knapper daneben können wir kaum liegen. Also gehen wir erst einmal in die Marble City Bar essen, die uns beim Stadtrundgang aufgefallen ist. Dieses Restaurant lässt keine Zweifel daran, dass seine Profession die Küche und nicht der Keller ist. Hier hängt auch niemand an der Bar und fragt „Wher'ya from?". Wir beißen uns heute in zweierlei Rinderbraten fest, was nichts über die mangelnde Qualität des Fleisches sagen soll, sondern dessen Schmelz herausstellen soll. Hier ist alles sehr gediegen und sehr schmackhaft, der morgige Sunday-Roast dürfte kaum appetitlicher ausfallen. Wir bestellen Wein und Bier dazu, nur als gaumenschmeichelnde Begleitung, nicht zum Selbstzweck.  

Dann schlendern wir doch zu Matt, weniger, weil wir uns für Disco entschieden hätten, dazu muss man nicht nach Kilkenny reisen, sondern weil wir bei einem Guinness den weiteren Abend planen wollen. Hier wird schon wieder heftig gebechert und Fußball auf tausend Schirmen geschaut – auch nicht die Unterhaltung, die wir uns für heute vorgestellt haben. Als die Zwischenebene, auf der sich gestern Abend noch Mickey Harte verausgaben durfte, für die Disco vorbereitet wird, haben wir unser Guinness unter Dach und Fach und eine Entscheidung getroffen: Kyteler's Inn.  

Das Haus findet man im Herzen des mittelalterlichen Kilkenny (St. Kieran Street), nur wenige Schritte von Matt. Es datiert ins 13. und 14 Jh. zurück, seit 1639 beherbergt es eine Kneipe. Von Beginn an war das Haus im Besitz der Familie Kyteler und lebte vom legendären Ruf Alice Kytelers, der ersten Frau in Irland, die der Hexerei bezichtigt und deswegen verfolgt wurde. 1263 wurde sie geboren, aber ihr Todesdatum ist nicht bekannt. Die letzten gesicherten Zeugnisse ihrer Existenz datieren nach 1325 aus England oder Flandern. Sie war ihren Häschern entkommen, im Gegensatz zu ihrer Magd Petronilla de Meath, die, wie auch andere ihrer Gefolgschaft und Anhänger, am 3. November 1324 auf dem Scheiterhaufen starb.  

Hier ist heute ab 22 Uhr Raglan Rogues,  eine traditionelle irische Live-Band angekündigt. Und tatsächlich, als Liverpool vs. Tottenham beendet ist, und die Fernseher ausgeschaltet werden, legen die vier mittel-älteren Herren um 22 Uhr los. Das Line-Up ist unspektakulär: Gitarre, Bouzuki, Mandoline, Banjos und E-Bass, genau das, was man benötigt, um eine Kneipe zum Kochen zu bringen. Alle vier sind feine Instrumentalisten und verstehen ihr Handwerk aus unendlich vielen Live-Auftritten. Der Chronist hat zumindest zwei von ihnen, da ist er sich ganz sicher, schon vor 30 Jahren in München gesehen, und da waren sie auch schon gut.  

Und kaum geht's los, geht auch schon die Post ab. Die vier haben alles drauf, was man in einer Kneipe spielt und natürlich das ganze unverzichtbare Repertoire, was bedeutet: die alten Einpeitscher wie die neueren Gassenhauer.  

Wir sind sofort mittendrin, dürfen mitgrölen, vermeiden aber jegliche irische Verbrüderung, die so unangemessen wäre wie der Versuch eines Kölners bayerisch reden zu wollen; peinlicher geht's kaum. Und das Publikum braucht uns auch nicht, um mit der Musik davonzufliegen, abzuheben und sich und ihre Heimat zu feiern; dazu braucht man im übrigen auch kein Heimatministerium, wenn alles andere stimmt und die richtigen Tassen im richtigen Schrank sind. Sie haben alle die Texte parat, singen mit, schmieren die heiser werdenden Hälse mit noch und noch einem Guinness und sind teilweise kaum noch unter Kontrolle; da wird getanzt, bis die Scharniere quietschen und die Bänder schnalzen. Alte Herren stimmen und fallen ein, ältere Damen geraten in ausufernde Wallung und es gibt keine Generationen mehr, nur noch Iren auf dem Weg zur Selbstversicherung.  

Bei N 17, dem sehnsuchtsvollen Song der Saw Doctors, der eine Fahrt über die berühmte Verbindung von Tuam in Galway nach Collooney in der Grafschaft Sligo besingt, eine Heimreise voller Wehmut und Glück, schwingen beim Refrain alle ihre Gläser und singen: And I wish I was on that N 17 / Stone walls and the grass is green / Yes I wish I was on that N17 / Stone walls and the grass is green / Travelling with just my thoughts and dreams.  

Aber sie können auch sentimental bis zur Tränensackdränage sein, etwa wenn Grace angestimmt wird. Das Lied besingt die Hochzeit zwischen Joseph Plunket und Grace Gifford, wenige Stunden bevor Joseph wegen seiner Beteiligung am Aufstand von 1916 in Dublin hingerichtet wird. Oh Grace just hold me in your arms and let this moment linger / They'll take me out at dawn and I will die / With all my love I place this wedding ring upon your finger / There won't be time to share our love for we must say goodbye. Beim Wedding Ring am Finger kochen die Stimmen über und die Ringfinger stechen in die Luft über den Köpfen – und dennoch geht hier niemandem die Luft aus.  

So alkoholisiert hier gefeiert, gesungen und getanzt wird, so ernsthaft sind die Leute trotzdem bei ihrer Sache: der irischen. Die singen nicht den Königsjodler oder das Kufstein-Lied, weil das eben am Heimatabend so Brauch ist. Die singen über sich selbst, die sind Grace und Joseph und sie sitzen im Auto, allein, verehren ihr Land und fühlen den Trennungsschmerz. Am tiefsten berührt uns diese Innigkeit bei Streets of New York von den Wolf Tones. Es erzählt die Geschichte eines jungen Iren, der von seinem Vater nach New York zu dessen Bruder geschickt wird, der dort im Polizeidienst arbeitet. Die Welt soll er kennenlernen und Erfahrungen sammeln. Er fliegt los voller Trauer und kommt aufgekratzt in NY an. Im Appartement seines Onkels Benjy erfährt er, dass der gerade im Dienst erschossen wurde. Er ruft seinen Vater an fragt ihn, was er nun tun solle und der befiehlt ihm zu bleiben, weiterzumachen und „ein stolzer Ire zu sein". Er folgt dem Rat seines Vaters und den Spuren seines Onkels und wird ebenfalls Polizist in New York.  

Sehr viel Tiefgang steckt in der Geschichte nicht, aber die eine Stelle, in der er vom Tod des Onkels erzählt und der Vater ihm den Rat gibt, weiter seinen Weg zu gehen, lässt die Kneipe fast platzen: Well I phoned up the ould fella, told him the news / I could tell he could hardly stand up in his shoes / And he wept as he told me, go ahead with the plan / And not to forget, to be a proud Irishman. Da fliegen die rechten Arme mit den Gläsern in die Höhe und die linken Fäuste trommeln auf die Herzen: alle zusammen ein einziger Proud Irishman, der sich nicht unterkriegen lässt, komme, was wolle.  

Wer diese Stimmung und diese Innigkeit erlebt, weiß, was in diesem Volk noch immer brennt. Jungen Iren muss man nicht die leidvolle Geschichte Irlands in die Köpfe hämmern, die müssen nicht indoktriniert werden – das lebt alles noch und ist noch immer bereit, für sein Überleben zu kämpfen. Die Lunten liegen überall bereit, es bedarf nur eines kleinen Funken. Im Kyteler's wird aus unserem theoretischen Wissen um die sensible Lage im geteilten Königreich eine Gewissheit: Die Zündelei an den Grenzen, die provokante Selbstherrlichkeit kann schon morgen einen Flächenbrand auslösen. Soll dann nur keiner schon wieder sagen, man habe es nicht gewusst: „Nobody knew about that when we voted". Man erinnere sich noch an den Engländer in Cáceres...  

Die Feiergesellschaft feiert und macht sich diese schweren Gedanken nicht, so soll es auch sein, aber wir sind schwer berührt. Die Feiergesellschaft feiert, tanzt und torkelt so sehr, dass die beiden Musiker, die am weitersten vorn platziert sind, nur noch mit ausgestreckten Beinen spielen können, damit ihnen die Tänzer und Tober nicht das gesamte Equipment niederrammeln. Doch auch das meistern sie souverän und gelassen. 

Kurz nach Mitternacht ist Schluss, alle sind selig, manche ölig. Wir gehen wieder zu unserem bekannten Taxistand. Auf der Brücke pendelt einer besoffen mit dem ganzen Oberkörper über die Mauer und hält sein Handy vor dem Mund zwecks Informationsaustausches. Wir wetten, dass der sich am Montag ein neues Telefon kaufen muss, um weiterhin an der Kommunikation teilhaben zu können.  

Um 0:45 Uhr sind wir wieder für 8 € im Camp, nicht mehr ganz nüchtern, aber noch immer Herr und Herrin unserer Bewegungen. So ein schöner Abend, so stellt man sich einen Kneipenabend in Irland vor, der nicht nur bierselig und rührselig ist, sondern uns nach lange beseelen wird.  

Und der klare Himmel liefert immer noch 14 °C.  

Kilkenny
J.F.K Arboretum / Kilkenny