Der Bairische Blues fährt ins Blaue - und ist dann mal weg

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Achill Island / Ballycastle

Achill Island

Freitag, 3.6.2022

Ein schöner Morgen begrüßt uns am Killary Fjord, und der macht es uns leicht, den Herausforderungen der nächsten Tage gelassen entgegenzublicken.  

Wir stehen nämlich vor einem turbulenten Wochenende. Gestern war bereits Bank-Holiday in England. Heute feiert die Queen ihr 70. Thronjubiläum. Morgen ist der Samstag zwischen Queen und Pfingstsonntag, und am Montag wird hierzulande zwar kein Pfingstmontag gefeiert, dafür einen irischen Bank-Holiday. Das bedeutet, dass die britischen Inseln in Bewegung sein werden, teilweise schon sind. So viele freie Tage! An solchen Terminen muss sich der Wohnmobilist auf Massenansturm und volle Camping- und Stellplätze gefasst machen. Falls man überhaupt auf einem Campingplatz Unterschlupf findet, dann nicht unter drei Nächten. Wir stellen uns demnach darauf ein, frei zu stehen und irgendwo Wasser bunkern und das Klo entleeren zu können; mehr als zwei Tage reicht die Klokassette nämlich kaum. Nun denn, gehen wir's an.  

Aber zuerst gehen wir ins Purple Door Café, gleich neben Hamilton's Bar zum Frühstück. Die Reiseleiterin entscheidet sich für einen Lachs-Burger und landet damit einen Volltreffer. Der Chronist jedoch macht auf kleinbürgerlich und bestellt sich bescheiden einen Scone mit Butter und Jam. Und diese Wahl ist wirklich bescheiden. Ein winziges, 20 Gramm starkes Butterblöckchen aus der Hotellerie und ein ebenfalls Hotel erfahrenes, winziges Becherchen Erdbeermarmelade für die zwei Hälften eines ziemlich groß geratenen Scones sind nicht schwäbisch und auch nicht schottisch, sondern nur peinlich. Wenn dann das Gebäck schon beim ersten Versuch, es zu bestreichen, in tausend Brösel zerfällt, bekommt der hungrige Chronist im Purple Door ein purple face und stößt mehr zitatunfähige Wortschnipsel aus als er Brösel in sich hineinbringt. Wer wird denn gleich in die Luft gehen, greife lieber zu Cappuccino und Kaffee, die sind nämlich o.k. Für den Nachmittag nehmen wir noch zwei Stückchen Rhabarberkuchen mit Mandeln mit und bezahlen für dieses üppige Morgenmahl – 26 €. Je nun, Leenaun ist nicht Lesotho, schon klar.  

Bevor wir uns von dieser Perle des Killary Fjords verabschieden, werfen wir noch einen Blick ins Sheep & Wool Centre gleich nebenan, weil hier sowieso alles praktisch nebenan liegt, aber der Blick lohnt sich so wenig wie der Versuch, einen Brösel-Scone mit Sitte und Anstand zu verspeisen. Das Angebot an Woll- und Tweedwaren ist bieder, überschaubar und teuer.  

Als wir dann im Begriff sind, endlich Franzens Kraftwerke in Gang zu setzen, sehen wir, wie sich neben uns ein junges Paar abmüht, irgendetwas mit Hilfe eines Stöckchens am Schuh der Dame zu bereinigen. Wir zeigen Interesse und erfahren, dass die beiden aus Franken sind und die Dame in Hundescheiße getreten ist. Da kann man lange pulen, bis man die Bescherung los ist. Wir leisten ihnen mit Essigreiniger, Wasser und Bürste Erste Hilfe; so etwa hat der Wohnmobilist eben an Bord, der Mietmobilist eher nicht. Bürsteln lassen wir sie aber schon selbst, weiter geht die Nächstenliebe nicht.  

Um 10:40 Uhr ist es dann so weit, wir verlassen Leenaun bei wolkigen 14 °C. Schon zehn Minuten später, kaum dass der Franz einigermaßen lauwarm ist, muss er schon wieder rasten, und zwar an den Aasleagh Wasserfällen [N 53° 37' 04,6'' W 009° 40' 22,5''].  

Der Begriff „Wasserfälle" ist vielleicht ein wenig übertrieben, denn das, was da, vom Eriff-River zur Verfügung gestellt, über ein paar Stufen plätschert, verdient wahrlich keinen Plural. Es erstaunt uns immer wieder, wie sich Touristen, zu denen auch wir uns zählen, von der Versprechung „Wasserfälle" verführen lassen. Man denkt sofort an Salto Ángel, Iguaçú, Victoria Falls, selbstverständlich Niagara und auch an den Rheinfall, doch die meisten sind eher schwachbrüstige, von der Touristik-Propaganda aufgeblasene Rinnsale. Der Tork-Wasserfall neulich im Killarney Nationalpark konnte sich durchaus sehen lassen, aber diese Aasleagh Falls sind doch eher eine Lachnummer, und trotzdem treibt sich außer uns eine bemerkenswerte Anzahl von Neugierigen herum, die ebenfalls überprüfen wollen, ob sie eventuell wieder einmal großen Sprüchen auf den Leim gegangen sind. Sind sie.  

Allerdings treiben sich auch einige Personen im Auslauf des Wasserfalls herum, das sind Fischer, und die bringen uns der wahren Bedeutung des Wasserfalls ein wenig näher: Der Eriff führt viele Lachse, die hier über die Stufen ihren Weg in die oberen Laichgründe finden. Wir nehmen deshalb den uncharmanten Begriff Lachnummer zurück und ersetzen ihn durch Lachsnummer, und schon hat der Aasleagh seine Ehre wieder zurück. Außerdem konstatieren wir ihm auch noch einen sehr romantischen Anblick, der auf jeden Fall ein Foto wert ist, was offensichtlich auch so ziemlich der einzige Beweggrund vieler Besucher hier ist; schnell ein hübsches Bildchen und tschüss. So sehen wir das auch.  

Wir bleiben vorerst bei unserem eingeschlagenen Zehn-Minuten-Takt, sind um 11 Uhr wieder weg und halten uns stramm nach Norden. Um 11:30 Uhr spendieren wir dem Franz in Westport 56 Liter Diesel für 1.98,9 €. Weiter geht es nach Norden, bis wir hinter Newport nach Westen drehen und den Achill Sound überqueren. Wir befinden uns jetzt auf Achill Island, der größten Insel Irlands, die nur durch eine kurze Brücke vom Festland getrennt ist – und einem der gefragtesten Tourismusziele.  

Das bleibt uns nicht verborgen, denn schon seit geraumer Zeit wird der Verkehr in beiden Richtungen immer dichter und teilweise rücksichtsloser. Von irischer Gelassenheit oder Behäbigkeit kann keine Rede mehr sein. Viel westlicher als der Westzipfel von Achill Island geht es in Irland tatsächlich nicht mehr, deswegen scheinen einige Autofahrer das Bedürfnis zu haben, den Wilden Westen auf Irlands Straßen nachzuspielen. Es ist ein für uns inzwischen unbekanntes Hauen und Stechen, das hier gepflegt wird, dass es der Beifahrerin ein ums andere Mal mulmig wird. Bei einer einspurigen und uneinsehbaren Brücke kommt so ein sportiver Rowdy von der anderen Seite über die Brücke gestochen, dass nur Millimeter fehlen, und der Franz hätte statt eines Kotflügels einen Blutflügel gehabt. Hätte der Chauffeur mehr gebremst als es ihm tatsächlich möglich war, wäre vermutlich die Einrichtung geflogen. Erstaunlich, wie sich Fianna bei dieser negativen Beschleunigung auf ihrem Sitz halten kann. Die Beifahrerin ist allerdings einem plötzlichen Herztod sehr nahe.  

Doch es ist nicht nur der ungewohnt rüde Umgang miteinander auf der Straße, der befremdet, sondern auch das, was sich neben den Straßen tut: Häuser über Häuser, Hotels, Ferienwohnungen. Wenn man gerade das sehr einsame Connemara durchfahren hat, reibt man sich die Augen über die dichte Besiedelung schon gleich nach dem Betreten der Insel. Hier stehen auf engem Raum mehr Häuser als drüben auf dem Festland auf 200 km2. Schön ist das nicht, außer für diejenigen, die daran verdienen.  

In der Hoffnung, dem Umtrieb zu entkommen und etwas Gnade zu finden, drehen wir nach Süden ab und stellen uns um 12:45 Uhr auf den Stellplatz Cloghmore bei Kidavnet [N 53° 52' 48,6'' W 009° 56' 50,6''], der zum Anwesen einer Dame gehört, die auf den schönen Namen Grace hörte, also unsere Sehnsucht nach Gnade erfüllen könnte.  

Ladies und Gentlemen, liebe Verfolger und Mitreisende, beschäftigen wir uns kurz mit einer der spannendsten Persönlichkeiten der irischen und englischen Geschichte: Grace O'Malley.  

Gráinne Ní Mháille, genannt Granuaile oder Gráinne Mhaol, englisch Grace O'Malley, wurde etwa um 1530 als Tochter des irischen Clanchefs Owen Dubhdara O'Malley und dessen Frau Margaret auf Clare Island im Westen Irlands geboren. Angeblich soll ihre Geburt sogar auf See stattgefunden haben. Das Kind erlebte schon früh die andauernde Bedrohung vom Lande und von Wasser her und lernte die Piraterie kennen, die dort praktisch zum Alltag gehörte. Das Meer zog sie magisch an und wurde ihr Lebensinhalt. Der Vater wies sie schon als Kind in die Geheimnisse der Navigation und der Seemannschaft ein. Gráinne wurde nicht nur schnell eine gute Seefahrerin, sondern lernte fünf Sprache fließend, nach dem heimischen Gälisch Latein, später Französisch, Spanisch und Griechisch. Nur Englisch kam ihr nie über die Lippen. 

Mit 16 heiratete sie Dónall O'Flaherty, den Chef des O'Flaherty-Clans, der auf Aughnanure Castle in Connemara saß. Mit ihm bekam sie drei Kinder. Als ihr Mann im Kampf fiel, übernahm sie erfolgreich die Verteidigung der Burg. Dieser Erfolg verschaffte ihr eine eigene Anhängerschaft und großes Ansehen, was für eine irische Frau jener Zeit äußerst ungewöhnlich war. Nur die Nachfolge ihres Mannes als Clan-Chef durfte sie geschlechtsbedingt nicht antreten und kehrte mit ergebenen Gefolgsleuten nach Clare Island zurück, um die Familiengeschäfte weiterzuführen.  

Diese Geschäfte bestanden vorwiegend aus Plündereien von Schiffen und Küstenorten; sowohl die O'Malleys wie auch die O'Flahertys lebten von der See, allerdings nicht von der Fischerei. Mit ihrer Beute trieben sie einen florierenden Handel. Gráinne wurde schwerreich und übernahm Burgen und ließ neue errichten. Eine davon ist der Wohnturm, vor dessen gut erhaltenen Resten wir im Augenblick stehen.  

Erfolg macht begehrt, und ihre Gefolgschaft wuchs immer weiter an. Erfolg macht aber auch begehrlich, weshalb sie ihre Raubzüge stetig weiter ausdehnte – und dabei zwangsläufig in Konflikt mit England kam. Königin Elisabeth I von England trieb ihrerseits die Kolonialisierung Irlands voran und setzte ein Kopfgeld auf Gráinne aus. Anfangs konnte sie sich dem Zugriff noch geschickt entziehen, doch 1578 geriet sie bei einem Gefecht in Gefangenschaft und wurde in Limerick ins Verließ gebracht. Später kam sie nach Dublin. Von dort entkam sie auf bis heute ungeklärte Weise.  

Klein beigeben war Gráinnes Sache nicht. Sie wandte sich mit einer Petition an die Königin und bat um deren Schutz. Tatsächlich kam es zu einem persönlichen Besuch am Hof. Gráinne Ní Mháille trat Elizabeth als Königin gegenüber und empfand sich als Elisabeth I ebenbürtig. Sie erkannte Elizabeth auch nicht als die Königin Irlands an. Da Ní Mháille kein Englisch und Elisabeth kein Irisch sprach, wurde das Gespräch der beiden in Latein geführt. Gràinne hatte dabei die Chuzpe, als Begründung für ihre Raubzüge die Sicherung des Lebensunterhalts ihrer Leute anzugeben. Wie sie es schaffte, die sture Elizabeth von sich und ihrer Argumentation zu überzeugen, wird wohl ungeklärt bleiben, aber sie wurde in allen Punkten freigesprochen. Mehr noch: Ihre in Gefangenschaft sitzenden Söhne und ihr Halbbruder kamen frei. Beide Söhne wurden sogar nach englischem Recht als Clanführer etabliert. Sie selbst durfte ihre Raubzüge fortsetzen, nun allerdings unter englischer Flagge; in dieser Hinsicht war Elizabeth sehr pragmatisch. Als Gegenleistung für Elisabeths Großzügigkeit bot Gráinne an, alle Feinde Englands „ihr Leben lang mit Schwert und Feuer" zu bekämpfen. Doch als Elizabeth nicht alle ihre Forderungen, wie zugesagt, erfüllte, zeigte sich Grace recht ungnädig und unterstützte weiterhin die irischen Rebellen.  

Gráinne Mhaol Ní Mháille soll am 18. Juni 1599 gestorben sein, anderen Quellen zufolge erst 1603. Es gibt nur wenige schriftliche Quellen über ihr Leben. Sicher ist jedoch, dass sie eine der schillerndsten und beeindruckendsten Persönlichkeiten der irischen Geschichte war. Sie war nicht nur eine äußerst erfolgreiche Piratin, sondern bezog ihre große Popularität vor allem auch aus ihrer überlieferten Milde gegenüber den Mannschaften der gekaperten Schiffe. So wurde sie zu einer Nationalheldin, zur „Queen of Connaught" oder „The Pirate Queen". Das Volkslied Oró Sé Do Bheatha 'Bhaile (Oro, du bist willkommen zuhause) besingt die Heimkehr von Grace O'Malley nach ihrer Gefangenschaft und ist noch heute fester Bestandteil der irischen Volksmusik, wurde allerdings auch zum martialischen Kampflied der IRA. Von den Dubliners bis Sinéad O'Connor haben die meisten Interpreten irischer Folklore das Lied in ihrem Repertoire. 

Wir stehen also nun vor einer der vielen Wohnsitze der berühmtesten Piratin Irlands, schleichen um diesen Wohnturm herum, nur um festzustellen, dass eben nicht viel zu sehen ist, außer dass er gut erhalten ist. Aber die Lage mit diesem weiten Blick hinaus aufs Meer, gibt der Phantasie die nötige Nahrung, wie Gráinne von hier aus in die See gestochen sein mag, um sich irgendeine pralle Galeere einzuverleiben. Dennoch reicht es nicht zu mehr als einem kurzen Stopp, der kaum länger als die Zusammenfassung des Lebens von Gráinne Ní Mháille ist.  

Um 13 Uhr kehren wir der Piratenkönigin den Rücken und fahren die Westküste der Insel hoch. Um 13:30 Uhr machen wir den nächsten Halt am Parkplatz oberhalb der Bucht von Dooega [N 53° 65' 15,6'' W 010° 01' 04,2'']. Jetzt bekommen die Mädels bei sonnigen 17 °C die Gelegenheit, sich ein wenig auszutoben und zu baden, weil sie heute Morgen in Leenaun etwas zu kurz gekommen waren. 

Um 13:50 Uhr geht es weiter über die R 319 in Richtung Westküste von Achill Island. Die Insel bedeckt eine Fläche von knapp 150 km2 und besteht zu fast 90 % aus Torfmooren. Die Hügel, die Taleinschnitte und Moore lassen eine Fahrt entlang der Küste nicht zu, deshalb führt die Straße erst nach Norden zur Inselmitte, bevor sie nach Westen schwenkt. Es ist ein wildes Land, durch das wir rollen. Nach Keel, an der Küste, wird es immer rauer und ungastlicher. Unser Ziel ist die Keem Bay im äußersten Westen, mit einem der schönsten Strände Irlands. Schon in einer früheren Notiz haben wir die Mühen angesprochen, die gelegentlich aufgewendet werden müssen, um in den Besitz einer echten Perle zu gelangen. Die Strandperle der Keem Bay bestätigt diese Ansicht mit jedem Meter.  

Schroff geht es hinauf und hinunter, teilweise ist die Straße ausgesetzt, die Straßenränder sind oft nicht befestigt, gelegentlich morastig. Da auch andere Besucher der Insel zur Keem Bay wollen und die R 319 die einzige Straße ist, die dorthin führt, setzt sich das rüpelhafte Hauen und Stechen auf dieser Piste unvermindert fort. Nur werden die Bedingungen immer schwieriger. Ausweichstellen, von denen es sowieso nicht so viele gibt, wie angesichts des Verkehrs nötig wären, werden von manchen Entgegenkommenden als lästigen Zeitverlust interpretiert, was darauf hinausläuft, dass sie uns ohne Entgegenkommen entgegen kommen.  

Der Chauffeur verspürt ein zunehmendes Unwohlsein, was nicht nur von den auf Irlands Straßen ungewohnt rüden Umgangsformen herrührt, sondern auch vom Straßenverlauf, der seine Höhenangst aktiviert; beides zusammen baut und braut sich zu einem Fluchtbedürfnis auf. Er hat im Laufe seines Lebens gelernt, seinem Bauch ein bedeutendes Mitspracherecht einzuräumen, und jetzt sendet der Bauch Signale, die im Gehirn die Warnanlage auslösen. Wie überirdisch schön muss eine Bucht sein, um diese zu überhören? Kann die gefühlt 55. Bucht die ultimative Perle sein, wenn auch 54 vor ihr schon einen gewissen Eindruck von Paradies vermitteln konnten? Vielleicht. Wenn nicht, war sie dann das Risiko wert? Will man den Bauch mundtot machen, um eine Antwort auf diese Frage zu bekommen? Die Keem Bay wird zur Achillesferse des Chauffeurs auf Achill Island. Bei der nächsten Gelegenheit steuert er den Franz in einen Geröllweg und kehrt um: Schluss. Ausamenende. Die Beifahrerin ist enttäuscht, kennt aber ihren Chauffeur lange genug, um zu wissen, dass es an diesem Point of Return kein Return gibt. Sie fragt nicht, sie versucht keine Überredung, die Keem Bay erhält eine leere Seite in unseren Reisenotizen.  

Der Chauffeur ist nicht stolz auf seinen Abbruch, er hadert mit sich, aber er ist und bleibt das letzte Wort. Man muss auch mit seinen Defiziten umgehen und leben können.  

Die Stimmung im Franz ist gedrückt: Der eine kaut an seinem Hasenfuß, die andere an ihrem Paradiesverlust. In solchen Stimmungslagen ist nicht gut mit dem Chauffeur Kirschen essen, zumal seine Außenrezeptoren poliert sind wie ein Operationsbesteck, bereit, die Umgebung bis auf Zellebene hinunter zu sezieren, um vielleicht noch den einen oder anderen Anlass zu finden, der seinem Unmut weitere Nahrung gibt und seine Entscheidung unterfüttert.  

Da kommt ihm das Most Westerly Café in Europe gerade recht. Das behauptet eine Snack-Bude am Straßenrand von sich. Der Chauffeur wetzt seinen Hintern im Sitz wie ein Puma den seinen kurz vor dem Absprung. Wieviel weiter östlich, verehrte Herrschaften, liegt denn Ihrer Meinung nach ein Café auf den Azoren, die bekanntlich zu Portugal gehören? Oder wie steht es denn beispielsweise mit Martinique oder Curaçao, die zu Frankreich bzw. den Niederlanden gehören? Müssen wir noch die englischen Überseegebiete ins Feld führen, die ebenfalls Europa zuzuordnen sind, weil auch England trotz Brexit noch Europa ist? Selbst wenn wir diese Überseebesitzungen außer Acht lassen, könnte es durchaus sein, dass ein Cafébesitzer in Cahersiveen (Ring of Kerry) oder im äußersten Westen von Dingle dagegen Einspruch erhebt. Ist diese marktschreierische Anmaßung nur dreist oder schon dumm oder die Dreistigkeit, auf die Dummheit derer zu setzen, die ihren Lieben zuhause posten, dass sie soeben ein Thunfischsandwich im westlichsten Café Europas zu sich nehmen? Aus dem Haupt des Chauffeurs steigt schwarzer Rauch, als wenn der Papst gestorben wäre.  

Als wir die Insel wieder über die knapp 200 Meter lange Michael-Davitt-Bridge verlassen, ist der Chauffeur maximal angepisst und zutiefst enttäuscht. Für ihn ist diese Insel der erste lost day der gesamten Reise. Die Reiseleiterin ist zumindest nicht begeistert von dem, was sie gesehen und erlebt hat, was bei der unterschiedlichen Gemütslage der beiden fast aufs Gleiche hinausläuft.  

Es dauert noch ein bisschen, bis sich der Touristenstrom auf den Straßen beruhigt und normalisiert. Jedenfalls haben wir jetzt eine klare Vorstellung von dem, was an diesem Wochenende und an dem Bank-Holiday-Montag auf Achill Island los sein wird. Wir sind froh, weg zu sein.  

Über die N 59 und weiter über die R 313 und R 314 fahren wir in den Norden und die Küste des County Mayo. Mit jedem Meter, den wir die touristische Todeszone hinter uns lassen, fühlen wir uns wieder wie zuhause. Einsam wird das Land, die Hügel schimmern in dunklem Braun, Grün und Violett, schwarze Seen speisen das Moor und die Heide, Torfbriketts liegen in kleinen Pyramiden zum Trocknen gestapelt. Der Kontrast zu Achill Island könnte kaum größer sein.  

Um 16:30 Uhr biegen wir in Ballycastle (County Antrim) auf die Wiese von Padraic's Place, wo wir heute die Nacht zubringen werden. Auf Padraic's Place [N 54° 16' 43,5'' W 009° 21' 43,3''] soll Platz für 45 Wohnmobile oder Caravans sein. Als wir ankommen, sehen wir nur ein weiteres Wohnmobil und ein Zelt, überschlagen aber bei einem Blick rundum, dass hier wahrscheinlich 145 Fahrzeuge unterkommen könnten. Kaum sind wir da, rollt Padraic vom Nachbargrundstück herüber, heißt uns herzlich willkommen und kassiert 10 € für die Nacht. Darüber kann man nicht meckern, zumal der Stellplatz auch eine volle Ver- und Entsorgung bietet. Wir sind also trotz Pfingstwochenende wieder einmal fündig geworden und haben uns unnötige Gedanken über eine eventuell überlaufende Toilettenkassette gemacht. Wer sucht, der findet und wer zweifelt, verzweifelt.  

Wir breiten uns aus, trinken Kaffee und genießen dazu das süße Rhabarberstücken aus der Purple Door von Leenaun, das anders als der Frühstücks-Scone saftig und süß im Mund schmilzt.  

Wir sitzen draußen, die Sonne lacht, wir sind (fast) allein. Die Mädels können sich frei bewegen, weil sie niemanden stören und genießen die Freiheit, rollen, toben und tollen wie übermütige Zicklein, obwohl sie altersmäßig doch schon echte Zicken sind. Abends gibt es eine kleine Brotzeit unter einem ungetrübten irischen Himmel. Ab 21:30 Uhr müssen wir Padraic's Idylle im Franz genießen, weil erstmals die Midges richtig aufdringlich werden.  

Egal. Wir haben heute einen Paradiesstrand abschreiben müssen und dafür ein kleines Paradies in Ballycastle gefunden. So viele Türen hat die Welt …  



Downpatrick Head / Dunmoran Strand
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