Der Bairische Blues fährt ins Blaue - und ist dann mal weg

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Downpatrick Head / Dunmoran Strand

Downpatrick Head

Pfingstsamstag, 4.6.2022

O, so schön kann Irland sein! Ein makelloses Firmament spannt sich über uns, kein Wölkchen schwimmt im Himmelskreis.  

Wir genießen ein ausgedehntes Frühstück in der Vormittagssonne auf Padraic's Place. Anschließend dürfen die Mädels auf der kurzen Paradieswiese eine Fährte erschnüffeln und absolvieren das, trotz der überschaubaren Trainingseinheiten, souverän. Dann bekommt der Franz noch sein Rundumsorglospaket: Toilette leeren, Grauwasser ablassen und den Frischwassertank auffüllen; man weiß ja nie, wann sich die nächste Gelegenheit dafür ergibt.  

Bei 16 °C und einem blankblauen Himmel verlassen wir den Stellplatz um 12:10 Uhr und sind schon 15 Minuten später an unserem ersten Tagesziel: Downpatrick Head. Wir stellen den Franz auf dem letzten Parkplatz ab, von dem aus es nur noch zu Fuß zur Landzunge Downpatrick Head hinauf geht.  

Beeindruckende Landzungen gibt es in Irland genug, aber nicht allen ist ein so schaurig schöner „Brikett-Felsen" vorgelagert wie dieser hier, der den Namen Dún Briste trägt. Geologen bezeichnen einen solchen Felsen als Brandungspfeiler, der sich im 14. Jh. vom Festland gelöst haben soll. Mit Seile und Booten sollen damals Leute vom abgebrochenen Pfeiler gerettet worden sein.  

Das ist natürlich uninspirierter Expertenquatsch, denn tatsächlich zeichnet der Hl. Patrick für diesen Pfeiler verantwortlich. Patrick ist bekanntlich der irische Nationalheilige erster Klasse, der für so ziemlich alles verantwortlich ist. Und das lief so ab – oder auch anders. 

Im 5. Jahrhundert wurde Irland von keltischen Gruppen beherrscht und von mehreren gewaltbereiten und skrupellosen Stammeskönigen regiert. Freiwillig setzte damals kein Fremder den Fuß auf irischen Boden. Manche mussten es unfreiwillig tun, weil sie als Sklaven auf die Insel gebracht wurden. So erging es einem jungen Burschen, der von einem dieser Könige, der den charmanten Namen Niall of the Nine Hostages trug, ins Land gebracht wurde, um ihn als Sklave zu verkaufen. Nach vielen Jahren konnte er sich jedoch befreien, verließ Irland, hatte einen weissagenden Traum und wurde zum Priester geweiht. Im Jahre 432 ging der jetzt junge Mann nach Irland zurück und tat, was ihm im Traum aufgetragen wurde: er missionierte. Das tat er mit solcher Inbrunst und offenbar auch mit so großem Erfolg, dass er bald „Der heilige St. Patrick von Irland" genannt wurde. 

Patrick machte mit seinen Missionsbemühungen auch vor den hartgesottenen keltischen Stammesfürsten nicht Halt. Eines Tages befand sich Patrick mit einem besonders widerborstigen Häuptling auf der Landzunge, doch der ließ alle guten und drohenden Worten hartnäckig an sich abprallen und dachte nicht daran, den Versprechungen Patricks Glauben zu schenken, dass der ganz fuchsteufelswild wurde, seinen Stab in den Boden rammte und damit den Felsen vom Festland abspaltete, mit dem Ungläubigen oben auf. Angeblich soll der immer noch dort sitzen und grollen. Wir haben ihn selbst mit Fernglas nicht gesehen.  

Da haben wir ihn wieder, den geschichtsträchtigen Stab. Mit so einem teilte bekanntlich Mose das Meer. Später, wir erinnern uns, war es Joseph von Arimathäa, der in Glastonbury seinen Stecken in den Boden rammte, worauf dieser der Urvater aller Weißdornbüsche wurde, unter denen heute die Feen ihre Intrigen spinnen. Und nun also auch noch der Hl. Patrick. Ob der keltische Säulenunheilige draußen auf dem umtosten Pfeiler wohl dem Psalmwort „Dein Stecken und Stab trösten mich" etwas abgewinnen kann?  

Noch aufreizender dürfte der Psalm beim zweiten Opfer von Patricks Stab ankommen. Es gibt nämlich eine Variante dieser Geschichte. In ihr gibt sich Patrick nicht lange mit zweitklassigen Keltenhäuptlingen ab, sondern nahm sich gleich das Grundübel dieser Welt zur Brust, den Teufel. Den lockte er auf die Spitze von Downpatrick und rammte den Stab in den Fels. Seither hockt der Unterirdische ziemlich ungeschützt auf Dún Briste und wettert unter schauerlichen Flüchen gegen den Heiligen. Angesichts des Zustands der Welt, bezweifelt der Chronist diese Variante, aber vielleicht hat der boshafte Gottseibeiuns schon vor seiner Verinselung für ausreichend Nachwuchs gesorgt. Anzunehmen ist es …  

Wer immer Schuld an diesem markanten Pfeiler trägt, er hat sich um die irische Tourismusbranche verdient gemacht. So ein Brett vor der Küste lockt zurecht die Menschen hierher, obwohl es heute, angesichts des langen Pfingstwochenendes längst nicht so viele sind wie befürchtet.  

Während sich die meisten Besucher auf dem Klippengelände gut verteilen, wird es an dem zweiten Hingucker etwas eng. Auf der Klippe kann man in ein Teufelsloch blicken, das etwa 30 Meter tiefe Poll Na Seantainne. In dieses Loch bahnen sich die Wellen des Atlantiks durch einen unterirdischen Kanal einen Weg ins Landesinnere. Mit gewaltiger Kraft wird das Wasser dann im Inneren des Topfes nach oben gepresst, von wo aus es sich wieder einen strudelnden und tosenden Weg in den Atlantik sucht. Dieses Loch ist spektakulär. Von einer Plattform aus kann man in diesen Höllenschlund blicken, allerdings dürfte man dort selten allein sein. Ein wenig Geduld sollte man mitbringen.  

Die Reste einer ehemaligen Militärbasis aus dem Zweiten Weltkrieg legen Zeugnis ab, dass eine so exponierte Lage militärisch von besonderer Bedeutung ist. Als Orientierungshilfe für die Piloten der Kampfjets wurde nahe der Klippen mit Steinen die Schriftzüge „EIRE" sowie die Zahl „64"in ein Feld gelegt, die man heute immer noch gut erkennen kann.  

Eine kleine Statue, fast dass man sie übersieht, setzt dem Namensgeber dieser Landzunge ein würdiges Denkmal. Es sieht aus, als wolle Paddy den Ort seines Triumphs überwachen, achtgeben, dass ihm sein Gefangener auf dem Pfeiler nicht entwischt, etwa gar durch das Teufelsloch, auf das er ein besonders scharfes Auge zu werfen scheint. In der linken Hand hält er den Bischofsstab, der rechte Arm ist ihm abhandengekommen. So kann es einem gehen, wenn man einen Stecken zu jähzornig in einen Felsen rammt. Aber immerhin hat er seinen Bischofsstab dafür nicht benutzt, wäre ja noch schöner.  

Um 13:20 Uhr verabschieden wir uns von Downpatrick Head und Dún Briste und ziehen weiter. Wir sind immer auf der Suche nach schicken Woll- und Tweedsachen, weswegen unser nächstes Ziel die Woollen Mill in Foxford ist; das Sheep & Wool Centre gestern in Leenaun war doch arg enttäuschend. Dazu müssen wir uns stramm nach Süden orientieren. Über die R 314 geht es einigermaßen geschmeidig voran. Bevor wir uns in Foxford mit Schafwolligem befassen wollen, machen wir um 14 Uhr in Ballina einen Stopp bei Coastcutter, um einzukaufen [N 54° 07' 27,9'' W 009° 09' 41,2'']. Das nimmt schwache 30 Minuten in Anspruch und dann geht es auf der N 26 weiter nach Süden.  

Um 14:50 Uhr stehen wir in Foxford auf dem Parkplatz von Wollen Mill [N 53° 58' 57,1'' W 009° 06' 45,4'']. Wenn wir berichten, dass wir bereits 15 Minuten später schon wieder vom Parkplatz rollen, dürfte das alles über den Erfolg dieses Abstechers ins Herz des County Mayo aussagen. Liebe Verfolger, kennt ihr das Gefühl, in ein Geschäft zu gehen und an der Schwelle zu wissen: Das ist nicht mein Laden. Was hier angeboten wird, sehnt sich nach einer Verwendung in Rosamunde Pilchers Nobel-Manors und löst beim Chronisten einen ähnlichen Widerwillen aus wie der miefige Geruch von Speick-Seife. Wir suchen nichts Sündteures aus Cashmere, sondern etwas Bezahlbares und Kuscheliges aus Lambswool, Capes oder Kuscheldecken für den kühlen Abend draußen. Für das Angebot des Woollen Mill in Foxford sind wir nicht geschaffen.  

Um 15:05 Uhr sind wir also schon wieder on the road. Für heute haben wir den Tipp eines Gesprächspartners aus den vergangenen Tagen im Visier, die Beach Bar in Aughris Head. Dort, so wurde uns vorgeschwärmt, käme man dem Camper-Paradies schon sehr nahe.  

Aughris Head liegt westlich von Sligo an der Küste. Die Frage ist nun: Welche Route wählen wir? Die plausibelste führt uns zurück nach Ballina und dann über die N 59 nach Nordosten. Eine andere Variante wäre die Ostroute über die N 26 nach Swinford, dann über die N 5 bis Charlestown und von dort über die N 17 nach Norden bis kurz vor Sligo und dann über die N 59 zurück; beide scheinbar große Umwege. Und Umwege liegen der Reiseleiterin und Navigatorin nicht. So entscheidet sie sich im Einklang mit ihren elektronischen Helfern für einen direkten Anflug: N 26 nach Osten bis Swinford und von dort in der Direttissima nach Norden, wie die Wildgänse, hoffentlich ohne schrillem Schrei.

Schon bald hinter Swinford wird es vergnüglich kuschelig, die Natur beschert den Reisenden einen Augenschmaus, der die Rumpelpiste optisch ausfedert. Der Chauffeur ahnt, dass er diese Augenblicke genießen sollte, als wären es die letzten. Und er sollte Recht behalten. Als wir den Franz etwa bei Mullany's Cross auf 0° Nord ausrichten, betreten wir eine Landschaft und eine Piste, die mit nichts Bisherigem vergleichbar ist. Das ist eigentlich noch nicht einmal mehr ein L-Straße, sie führt den Namen des Townlands (Gemarkung), durch das sie führt: Sessuegilroy. O, heiliger Christophorus!  

Wir befahren eine einspurige Berg- und Talbahn ohne Ausweichstellen! Die einzigen Geschöpfe, die sich außer uns auf dieser Straße wohlzufühlen scheinen, sind Schafe, die nicht immer einsehen wollen, warum sie uns Platz machen sollten. Zu beiden Seiten erstreckt sich das Easkey Bog aus, eine Moor- und Heidelandschaft, die sich an manchen Stellen bis knapp 500 Meter hoch aufbaut und uns den Kurs aufzwingt: hin und her, rauf und runter. Die Anstiege sind ebenso schroff wie die Abfahrten, aber auf den Anstiegen sieht der Chauffeur nichts außer Himmel, jedenfalls nicht, ob er in der nächsten Sekunde plötzlich eine Begegnung der hier äußerst unerwünschten Art hat: Statt der erwünschten Ausweichstellen gibt es nur Weichstellen gleich neben der Straße. Wer hier gezwungen ist auszuweichen, braucht vermutlich einen Bergekran. Ausweichen geht also nicht, nur rückwärtsfahren, so lange, bis die Trasse irgendwo gnädig ist.  

Trotz der ständig wachsenden Anspannung – irgendwann muss doch jemand entgegenkommen –, ist diese Fahrt durch eine der gottverlassendsten Gegenden Irlands ein unvergessliches Erlebnis. Wir gleiten durch den Euphorie-Tunnel eines Nahtod-Erlebnisses. Irgendwann taucht aus dem Nichts hinter uns ein Pick-Up auf, den wir am befestigten Eingang zu einem Schafpferch passieren lassen und fortan als Follow-Me-Car benutzen, weil nichts unangenehmer ist, als auf einer solchen Straße jemand hinter sich zu wissen, den man lieber vor sich hat. Der Kollege sieht das offenbar auch so und rollt in gebotenem Tempo brav vor uns her.  

Kilometer reiht sich an Kilometer, Kurve reiht sich an Kurve und Anstiege an Abfahrten – Spiel mir das Lied vom Tod… Und dann sind wir durch und drüber. Westlich von Dromore West erreichen wir wieder die N 59 und folgen ihr nach Osten. Hinter uns liegen 18 Kilometer Nerven-Doping und Psycho-Engineering, 18 Kilometer ohne Gegenverkehr! Offensichtlich wissen hier alle, was wir und unsere Digitalnavigatoren nicht wussten: Dass man diese Straße nur benutzt, wenn es gar nicht anders geht. Aber es geht doch!  

Je mehr wir uns Aughris Head und der Beach Bar nähern, desto heftiger wird das Kontrastprogramm. Wir kommen manchmal nur schrittweise voran, weil geparkte Autos und Gegenverkehr uns immer wieder ausbremsen. Als wir um 16:30 Uhr die Bar endlich erreichen [N 54° 16' 07,6'' W 008° 45' 26,2''], stecken wir mitten im Touristenrummel – und fest. Der Parkplatz ist rammelvoll, die Zufahrten ebenso oder zugeparkt und überall Leute mit Bier, Eis, Kaffee oder Sandwiches. Strike! Da steckt er fest, der dicke Franz mit seinen fast acht Metern, und der Chauffeur solls wieder richten.  

Die Frage, ob hier ein Platz für die Nacht frei wäre, erübrigt sich eigentlich, aber die Reiseleiterin fragt dennoch nach und bekommt einen abschlägigen Bescheid: Ausgebucht. Traurig sind wir darüber nicht, aber froh, nicht vorab gebucht zu haben. Vermutlich hätten wir trotz des dann verfügbaren Stellplatzes sofort die Flucht ergriffen. Zentimeter um Zentimeter befreien wir uns aus dem Parkchaos und kämpfen uns durch den Park- und Gegenverkehr wieder hinaus an die frische Luft draußen auf der L 2204, die parallel zur N 59 verläuft. Nur knappe sechs Kilometer östlich liegt Dunmoran Strand, bei dem wir nun versuchen, einen Platz für die Nach zu finden. Dunmoran Strand ist eine reine Badebucht, von der wir hoffen, dass ein Plätzchen für uns frei wird, wenn die Badegäste weg sind.  

Um 17 Uhr kommen wir dort an. Der Badeparkplatz [N 54° 15' 45,0'' W 008° 43' 27,1''] ist erwartungsgemäß gut besucht, aber wir finden einen Hocker, auf dem wir sicher nicht über Nacht bleiben würden, aber eine bequeme Warteposition beziehen können. Der Parkplatz liegt nur wenige Meter von der Badebucht entfernt, und so können wir den Badebetrieb beobachten und schon beim Gedanken, dort zu schwimmen, bibbern. Auch Kinder plantschen im seichten Wasser der Bucht, manche mit Neopren-Anzügen, manche aber nur mit Badehose oder -anzug.  

Es dauert nicht allzu lange, bis eine Lücke frei wird, die wir sofort besetzen, selbstredend mit Blick aufs Meer. Etwas anderes würde die Reiseleiterin nie akzeptieren. Jetzt ist alles gut: Wir haben sogar am Pfingstsamstag einen Hocker für die Nacht ergattert. Neben dem Franz lockt eine große hölzerne Sitzgruppe und außerdem verfügt der Parkplatz über zwei blitzsaubere Dixi-Klos für die Badegäste. Kann man mehr Luxus wollen? Wir sind glücklich und sehen dem Rest des Tages entspannt entgegen.  

Als wir uns gerade einrichten, kehren ins Womo neben uns zwei in die Jahre gekommene irische Damen von Schwimmen zurück. Wir plaudern mit ihnen und wollen wissen, wie kalt das Wasser sei. Naja, sagt die eine, elf Grad vielleicht, und die andere korrigiert: eher zehn Grad. Möglicherweise hören sie, wie die Zähne des Chronisten aufeinander rattern und fügen tröstend an: Wir machen das aber auch den ganzen Winter über. Die beiden Eisheiligen machen dabei den Eindruck, als kämen sie gerade aus dem Dampfbad.  

Tatsächlich messen wir 19 °C und blicken in einen wasserblauen Himmel, der einige weiße Sommerwölkchen transportiert. Das sind ideale Voraussetzungen, die Mädels auszuführen. Erst halten wir uns landseitig am Fuß der Dünen und stellen fest, dass außer diesem Pfad alles Bauernland ist, das wir nicht betreten dürfen. Also hinüber über die Dünen und am Strand entlang, was für die Mädels sowieso die bessere Variante ist.  

Nachdem wir zurück sind, packen wir den Lotus-Grill auf den Tisch neben dem Franz und grillen ein paar Hähnchenspieße, legen Kartöffelchen und Pimientos dazu – fertig ist das Strandmahl. Wir haben es gut getroffen, tausendmal besser als im Camper-Paradies Aughris Head. Aber mehr als eine Nacht werden wir auch hier nicht bleiben, weil tagsüber einfach zu viel los ist: Morgen ist Pfingstsonntag.  

Wir sitzen draußen und genießen den Abend. Um 22:02 Uhr ist Sonnenuntergang. Keine Wolke verdirbt uns den Moment, wenn der Feuerball ins Wasser sinkt. Richtig dunkel wird es aber erst gegen 22:45 Uhr, da haben wir in Deutschland fast Mitternacht. Unter diesen Bedingungen braucht man wirklich keine Sommerzeit.  



Killybegs
Achill Island / Ballycastle