Der Bairische Blues fährt ins Blaue - und ist dann mal weg

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Slieve League / Malin Beg (Silver Strand)

Silver Strand

Dienstag, 7.6.2022

Nun stecken wir also mitten in Donegal, der nördlichsten Grafschaft Irlands.  

Als wir uns vor Wochen überlegten, ob es überhaupt Sinn macht, Irland noch zu bereisen oder ob es nicht besser wäre, dafür zu einem anderen Zeitpunkt einen neuen Anlauf zu wagen, kamen wir überein, so weit zu fahren, wie es vertretbar ist, ohne uns auf eine touristische Tour de Force einzulassen. Wir gingen davon aus, dass wir es möglicherweise bis zur Mitte Irlands schaffen würden, der Norden sollte irgendwann später folgen. So kann man sich täuschen. Irland ist klein: Malin Head im äußersten Norden und Cape Clear Island ganz im Süden trennen nur etwa 460 Kilometer.  

Und so sind wir nun hier, in einer der beiden Grafschaften, die bei den meisten Liebhabern Irlands die größten Sehnsüchte bedienen: Donegal und Connemara. Das wilde Connemara haben wir schon bereist und werden es noch einmal besuchen, und nun wollen wir sehen, ob Donegal wirklich lieblich ist, wie man oft hört. Bisher hat es sich kaum lieblich, sondern ähnlich handfest wie Connemara gezeigt.  

Nach dem üblichen Morgenspaziergang und dem unverzichtbaren Frühstück verlassen wir den Holiday Park von Killybegs bei wolkigem Wetter um 11 Uhr. Wir fahren nach Westen.  

Um 11:30 Uhr bekommen wir gerade noch einen der beiden letzten freien Wohnmobil-Parkplätze am Slieve League Car Park [N 54° 37' 36,2'' W 008° 39' 47,2'']. Für zwei Stunden werden hier 5 € fällig.  

Der irische Begriff Sliabh Liag bedeutet Steinberg. Die Klippen von Slieve League tragen diesen Namen zurecht, denn sie gehören mit bis zu 600 Metern Höhe zu den spektakulärsten und mächtigsten Klippen Europas. Das erklärt, warum man sich bei der Parkplatzsuche, zumal mit einem dicken Franz, etwas schwertun kann. Bei angenehmem Wetter um 16 °C und weiß-blauem Himmel ist man hier nie allein.  

Vom Parkplatz spazieren wir mit den Mädel die knapp zwei Kilometer hoch zum Bunglass Point, dem Aussichtspunkt auf den Klippen, links unter uns der allmächtige Atlantik und rechts über uns Felsen, Berge, grüne Matten und Heide. Diese Landschaft überwältigt und schnürt dem Besucher gelegentlich die Luft ab – auch, weil es in Abschnitten ziemlich steil bergauf geht. Meist ist jedoch das Panorama für die Luftknappheit verantwortlich.  

Und dennoch ist der Chronist heute muffig in seiner Seele, räumt dennoch diesen Klippen gerne einen Klassenunterschied gegenüber jenen von Moher ein, die sich mit ihren kläglichen 217 m daneben wie eine Lehrlingsarbeit ausnehmen. Aber in den Augen des Nörglers hat eben auch die Kulisse von Slieve League nicht viel mehr zu bieten als die Allgäuer Alpen: steile Berge mit Grasbewuchs und dazwischen gelagerten Seen und Tümpeln. Das tosende, blaue Meer fehlt halt, aber das kann man sich auch dazu denken, alles eine Frage der Phantasie. Nein, seine Seele hat heute wegen Inventur geschlossen und will nichts mehr einlagern, bevor der Altbestand nicht ausgewertet und bereinigt ist.  

Die Reiseleiterin kennt diese Seelenhäutungen nur zu gut und geht nicht darauf ein, aber routiniert damit um. Sie möchte vom Bunglass Point noch weiter hinauf auf die aufragenden Hänge im Rücken, fragt ihn, ob er sie begleiten möchte, was er erwartungsgemäß ablehnt: Zuviel Aufwand für zu wenig erwartbaren Ertrag. Viel mehr könne man, seiner Meinung nach, von dort oben auch nicht sehen. Außerdem habe er Rücksicht auf sein Knie zu nehmen, das ihm vor allem den steilen Abstieg verübeln würde. So geht sie mit Hedda davon und lässt die Grauschnauze beim Graukopf. 

Da sitzt er nun auf einem Felsen, das schwarze Herz des Bairischen Blues zu seinen Füßen, wie einst Thomas Mann mit seinem Bauschan. Seine Blicke ertrinken in den weißschäumenden Fluten der Gischt tief unter ihm, folgen den Ausflugsschiffen aus Killybegs, die unter den schwarzen Felsen Kreise ziehen, um den Passagieren jenen ehrfürchtigen Schauer zu vermitteln, für den sie bezahlt haben. Störend wirken nur ein paar übergewichtige weibliche Teenager, die offenbar nicht die richtige Position finden, um ihre Fülle mitsamt der Kulisse auf ein Selfie zu bannen. Sogar Fianna lagert sich um und wendet sich dem Schauerspiel ab.  

Oben auf den Hängen und Felsen steigen und wandern winzige Menschenpunkte auf den mäandernden Pfaden, irgendwo zwischen ihnen die Reiseleiterin mit der Läufigen. Manche von ihnen haben sicher den One-Man's-Path zum Ziel, jenen Höhensteig, der auf den höchsten Punkt der Klippen führt und schon beim schieren Drandenken dem Chronisten einen größeren Schauer über den Rücken jagt als die dicken Girlies. Für Hardcore-Alpinisten aber ist dieser Steig ein Muss: 550 Meter lang, 50 cm breit, durchgehend ungesichert – und links und rechts nichts als hunderte Meter Abgrund. Wer hier nicht schwindelfrei und ein erfahrener Berggeher ist oder in eine Bö gerät, darf mit den Möwen segeln gehen.  

Nach einer knappen Stunde ist der Bairische Blues wieder komplett. Die Aufsteigerin gesteht, dass es dort oben tatsächlich nicht viel mehr zu sehen gab als hier, es aber trotzdem herzerwärmend schön war und berichtet, dass Hedda infolge ihrer Läufigkeit ziemlich zu beißen hatte, nicht gegen lästige Rüden, sondern gegen die Schlaffheit ihrer Beine. Die Seelenhäutung des Chronisten ist nun auch vollzogen und hat einen frischfrommfröhlichfrei gutgelaunten Chauffeur freigelegt. Und so bremsen wir unsere frohgestimmten Leiber wieder den Berg hinunter zum Franz, wo wir um 13:30 Uhr ankommen, gerade mit Ablauf unserer Parkzeit.  

Darüber machen wir uns aber kaum Gedanken, weil wir wissen, dass es die Iren nicht so genau nehmen und wir uns, zweitens, im Kiosk des Parkwächters Kaffee und Kuchen kaufen, was der sicher nicht mit einer Strafgebühr ahnden würde.  

Um 14 Uhr verlassen wir die Klippen von Slieve League bei himmelblauen 17 °C. Über Carrick und die R 263 fahren wir durch ein wildschönes Hochland in den tiefen Westen Donegals, nach Glencolumbkille, wo wir um 14:30 Uhr ankommen [N 54° 42' 12,4'' W 008° 43' 19,3''].  

Glencolumb…was? Nein, es ist keine Bildungslücke, wenn man diesen Ort nicht kennt, er hat auch nur wenig über 200 Einwohner. Würde man ihn in eine Liste der Sehenswürdigkeiten Irlands aufnehmen, stünde er etwa auf einer Stufe mit dem oberbayerischen Wilparting. Dort gibt es eine sehr interessante Wallfahrtskirche zu sehen, die auf die christlichen Missionare und Märtyrer Marinus und Anian aus dem 7. Jh. zurückgeht. Ein weiterer Blickfang ist eine oftmals geschundene, aber 750 Jahre alte Linde. Wenn man beides besichtigt hat, freut sich der Wirt eines Landgasthofs über Besuch. Zu den Top 100 gehört Wilparting dennoch nicht.  

So ergeht es auch Glencolumbkille. In der Gegend finden sich frühchristliche Spuren und Zeugen der Vorzeit, die allerdings kaum noch zu finden sind. Der Name des Orts bedeutet übersetzt etwa „Tal des Hl. Columban", was auf Columban zurückgeht, der hier im späten 6. Jh. lebte und einer der drei Nationalheiligen Irlands ist. Das war's. Diesem frühgeschichtlichen Erbe kann man in einem Folk Village Museum mit verschiedenen alten Hütten und Bauwerken nachspüren. Uns interessiert jedoch etwas anderes: ein Kunstwerk, wie es in der Welt einzigartig sein dürfte.  

Das vermutlich folgenschwerste Ereignis der Geschichte Irlands war der Osteraufstand von 1916, als sich irische Rebellen wieder einmal mit Waffengewalt gegen die englischen Besatzer zu wehren versuchten. Der Aufstand wurde niedergeschlagen wie alle anderen zuvor. Mindestens 500 tote englische Soldaten und doppelt so viele Rebellen verloren ihr Leben. Doch diese Rebellion führte zu Verhandlungen der Konfliktparteien und schließlich am 6. Dezember 1921 zur Unterzeichnung des „Anglo-Irischen Vertrags". Genau ein Jahr später trat die „Verfassung des Irischen Freistaats" in Kraft. Irland war selbstständig. Die sechs mehrheitlich protestantischen Grafschaften in Ulster blieben per Volksentscheid beim Vereinigten Königreich und wurden zu Nordirland. 

Anlässlich des 100. Jubiläums der historischen Ereignisse von 1916, gestalteten 32 irische Bildhauer und Steinmetze ein Mosaik, das die 32 irischen Grafschaften darstellt, jede Grafschaft in einem anderen Stein und mit einer eigenen Gravur. Dieses Kunstwerk müsste eigentlich in Dublin stehen, aber hier in der Einsamkeit Donegals entwickelt es sicher mehr Strahlkraft als im Trubel der Großstadt. Wir sind uns nicht sicher, ob wir in Dublin die Zeit gefunden hätten, uns Clocha na hÉireann anzusehen, aber den kurzen Stopp in Glencolumbkille haben wir gerne gemacht und keine Sekunde bereut. Jedem, der sich in der Gegend aufhält, sollte diesen kleinen Umweg unbedingt einplanen.  

Wir fahren weiter. Pfingsten ist vorbei und nach Ansicht der Reiseleiterin ist es högschte Zeit, wieder einmal einen Strand anzufahren. Und so ist es kein Zufall, dass wir um 15 Uhr auf einem Parkplatz der Gemeinde Malin Beg 40 Meter über dem zauberhaften Silver Strand unseren Franz parken [N 54° 39' 54,4'' W 008° 46' 37,7''], die Nase hinaus aufs Meer gerichtet, so wie es das Bairische Blues-Gesetz vorschreibt. Bei 18 °C und einem blauen Himmel hat auch der Chauffeur keine Einwände, hier gestrandet zu sein.  

Außer uns sind nur wenige Wohnmobile da, gleich neben uns jedoch eines aus Wales, in dessen Cockpit ein englisches Paar sitzt, er, wie wir bald erfahren, schon 80, aber fit wie ein Turnschuh. Die beiden sitzen mit Ferngläsern vor den Augen und sezieren die Felswände der Bucht. Auf der Ablage vor ihnen eine Handvoll Vogel-Bestimmungsbücher, denen man die Dauerbenutzung ansieht.  

Kaum sind wir angekommen und ausgestiegen, gehen die Fenster runter und wir befinden uns in einer der amüsantesten und herzerfrischendsten Konversationen unserer Reise. Wie gelingt es, das Gegenüber sofort für sich einzunehmen? Indem man ihm schmeichelt! Kaum sind die Fenster unten, wir stehen daneben, die Reiseleiterin plappert und plaudert in der ihr eigenen Art, da wird sie für ihr „excellent English" gelobt, was ihrem Redefluss Feuer, Schwung und Aufschwung gibt. In den folgenden eineinhalb Stunden dreht sich naturgemäß viel um Vögel, große Vögel, kleine Vögel, bunte Vögel, schräge Vögel, lustige Vögel und seltene Vögel, Greifvögel, Seevögel und Singvögel. Spätesten bei den schrägen Vögeln sitzen wir dann über Engländer, Waliser, Schotten, Iren, Deutsche, Schweden und Italiener zu Gericht, landen beim Brexshit und kommen über die Ukraine zum Galgenvogel Putin, klagen über Preise, Handelsketten und Lieferprobleme, untersuchen Sprachspezialitäten, -analogien und Dialekte und lassen die verbale Weltenrettung bei den Walen und Delphinen ausklingen. Alles außer der Zerstörung des brasilianischen Regenwaldes haben wir durchdekliniert, Probleme erkannt und gelöst und deutsch-englische Meinungsharmonie gelebt. War ganz einfach, ist immer einfach, wenn man es nicht mit Hornochsen zu tun hat.  

Um 16:30 Uhr reißen wir uns los, weil wir neben unseren Kiefern vor allem endlich unsere Mädels bewegen müssen. Steil geht es sie Treppen zum Strand hinunter, wo sie endlich nach Herzenslust toben können, weil wir fast allein sind. Dieser reizende Strand bringt nur etwa 500 Meter von einer zur anderen Seite zusammen, aber das ist genug, vor allem, wenn die Ebbe dem Sand Tiefe und Schlammgründe gibt. Zum Vorteil seiner Vierläufigen hat sich der Chronist längst damit abgefunden, dass ein Wohnmobil mit Hunden kein Reinraum, sondern eine Siffbude ist. Nur manchmal noch rümpft er die Nase und fleht um Erlösung, die nicht in Aussicht ist.  

Als wir wieder oben am Parkplatz sind, wedelt der Nachbar bereits heftig mit den Armen und deutet hinaus in die Bucht: Er hat einen ganzen Schwarm Bottlenose-Delphine gesichtet. Jetzt kruschteln auch wir unsere Ferngläser aus ihrem Versteck und starren aufs Meer hinaus. Mindestens 30 Flaschennasen sind es, die da draußen das Meer umpflügen. Gelegentlich springt einer übermütig aus dem Wasser und trifft dabei ziemlich genau die Stimmungslage im Franz.  

Als die wilde Horde weitergezogen ist, wird es endlich Zeit, den für die Weltrettung verschobenen Ankerschluck zu nehmen. Abends stapeln wir uns wieder einmal zwei Burger auf, und dann findet der Himmel, dass wir nun genug des Guten hatten, verfinstert sich und wirft mit Wasser nach uns. Und der Wind singt sein Lied dazu, aber wir pfeifen drauf.  



Glengesh Pass / Meenaleck
Killybegs