Der Bairische Blues fährt ins Blaue - und ist dann mal weg

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Glengesh Pass / Meenaleck

Glengesh Pass

Mittwoch, 8. / Donnerstag, 9.6.2022

Der Regen lässt nachts nach, meist treibt er nur noch als Sprühregen über den Silver Strand, dafür gibt der Wind nun Gas, manche nennen das „lebhaft". Dieser donegälische Wind ist jedenfalls so lebhaft, dass der Franz wieder einmal zum Kinderwagen wird, ein Kinderwagen, der seine Insassen aus dem Schlaf schüttelt.  

Den Umständen folgend geht der Morgen seinen routinierten Gang. Die Mädels müssen sich mit einem verkürzten Ausgang abfinden, das Frühstück ist rational und die innerfranzlichen Abläufe zweckdienlich. Die kommunikativen englischen Nachbarn fahren mit nur einem herausgewunkenen Gruß davon, Gesprochenes wäre sofort Verwehtes.  

Um 10:30 Uhr fahren auch wir davon, noch einmal zurück nach Glencolumbkille, nicht wegen des steinernen Mosaiks, sondern wegen wolliger Wünsche. Es stürmt bei 14 °C, die Luft trägt schwer am Wasser.  

Um 10:40 Uhr erreichen wir wieder Glencolombkille und besuchen die Wool Mill Rossan Knitwear [N54° 41' 32,1'' W 008° 44' 53,4'']. Wir haben noch nicht aufgegeben, möglicherweise doch noch zu finden, was uns bislang verwehrt blieb. Und tatsächlich: Die Reiseleiterin findet eine hübsche Strickjacke und dazu eine Tasse mit einem Robin-Motiv, jenem Rotkehlchen, das uns auf den Inseln überall umhüpft und zuhause nie zu sehen ist. Das liegt daran, dass nahezu ganz Großbritannien von dichten Hecken durchzogen ist, in der die Rotkehlchen nisten. Bei uns findet man so etwas kaum noch, Thujen finden die kleinen Sänger nämlich ebenso abstoßend wie der Chronist. Der wird übrigens ebenfalls fündig: Zwei kleine Büchlein über die irische Geschichte und die irische Revolution sowie einen irischen Gedichtband.  

Um 11:00 Uhr machen wir uns wieder auf den Weg. Grobes Ziel ist der Glenveagh Nationalpark. Zwar sind wir nicht sicher, ob es viel Sinn macht, ihn unter diesen Wetterbedingungen anzusteuern, aber wir beschließen, uns ihm anzunähern und später zu entscheiden. Da uns der komfortable Weg dorthin wieder über Killybegs führen würde, was einen Umweg von rund 100 Kilometern bedeutet, nehmen wir den direkten, wildromantischen und herausfordernden über den Glengesh Pass.  

Meter für Meter arbeiten wir uns nun die R 230 hoch, was bei einer Scheitelhöhe von 275 m. ü. M. so klingt, wie wenn ein Nordfriese über den steilen Aufstieg zum Nockherberg klagt, doch wenn man von Meereshöhe kommt, kann sich das auf einer engen und sehr gewundenen Straße recht zäh darstellen.  

Um 11:50 Uhr sind wir am Aussichtspunkt auf der Höhe des Passes angekommen und werfen einen Blick ins wilde Donegal, das hier absolut nicht lieblich ist, noch nicht einmal lieblich wäre, wenn das Wetter mitspielen würde. Heute ist es sehr eindrucksvoll, das Eindrucksvollste ist jedoch die brodelnde Wetterküche zwischen den Bergen.  

Wieder hinunter ins Tal liegen nur etwa fünf Kilometer vor uns, und die haben es in sich: steil, enge Haarnadelkurven, hautnaher Bewuchs sowie Mauern an den Wegrändern und nahezu keine Ausweichstellen.  

Natürlich kommt uns an einer der engsten Stellen - weit und breit kein Ausweicher – ein Pkw entgegen, offenbar mit einem Fahrer, der seine mangelnden Fahrkünste mit denen der anderen zu kompensieren sucht: Er fährt einfach weiter, weil er sich rückwärts nicht traut. Also rollt der dicke Franz rückwärts den Berg hoch, links am Anschlag, wie es linkser nicht geht. Aber der Gegner kommt nicht vorbei. Franz' linker Außenspiegel wühlt sich inzwischen durch Farngestrüpp und ist blind. Währenddessen sendet Radio Beifahrer unentwegt: „Der kommt nicht vorbei!" Das ist dem Chauffeur nicht verborgen geblieben, also setzt er den Franz weiter zurück, immer schön den Berg hinauf. Inzwischen schiebt er zwei weitere Verfolger hinter sich ebenfalls den Berg hoch. Und Radio Beifahrer sendet weiterhin: „Der kommt hier nie und nimmer vorbei!" Der Chauffeur lässt sein Radio senden und plappern, weil er weiß, dass der Mund der Blitzableiter der Seele ist. Wenn der Fahrer ohne Sicht nach hinten rückwärtsfahren muss, darf sich die Beifahrerin ihre Beklemmung von der Seele plappern. Als der Rückwärtskonvoi auch für den Bergauffahrer erkennbar keine Ausweichstelle öffnen wird, die ihn passieren lässt, nimmt er all seinen Mut zusammen und rollt endlich zurück. An drei Fahrzeugen, so scheint er endlich zu erkennen, kommt er frühestens auf der Passhöhe vorbei. Nach kaum mehr als 60 Metern tut sich eine Hofeinfahrt auf, in die er hineingleiten und uns passieren lassen kann. O Herr, schmeiß Hirn vom Himmel!

Kurz nach 12:00 Uhr sind wir in Ardara und tanken den Franz mit 54 l für 1.99,9 € voll. Anschließend fahren wir für eine Planungspause auf den städtischen Parkplatz [N 54° 45' 45,8'' W 008° 24' 38,6'']. Es macht keinen Sinn, bei diesem Wetter in den Nationalpark zu fahren. Also beschließen wir, ihn bis auf weiteres rechts liegen zu lassen und vorerst die Kultur der Natur vorzuziehen.  

Wir fahren weiter, immer weiter nach Norden, in eine Welt, die immer beeindruckender, aber bestimmt nicht lieblicher wird. Nur eines können wir schon jetzt bestätigen: Donegal ist überwältigend schön und verdient jede denkbare Lobeshymne! 

Um 13:15 Uhr gehen wir in Dungloe bei LIDL einkaufen und fahren um 13:45 Uhr weiter. Um 14 Uhr erreichen wir unser heutiges Ziel: Meenaleck, Camping Sleepy Hollows [N55° 01' 50,2'' W 008° 16' 15,3'']. Es ist dick bewölkt und noch immer sehr windig, aber der Regen macht gerade Pause.  

Der Campingplatz ist herzerfrischend klein, schnuckelig und urig. Er bietet, je nach Größe der Fahrzeuge, sechs bis acht Stellflächen, alles etwas verwinkelt und verhuscht. Die Betreiber sind von der besonders herzlichen Sorte, Bio Getriebene, jedoch ohne das freudlose Sektierertum, das wir im Eco Beach Camping in Clifden erlebten. Bei den Sleepy Hollows geht es leger zu und mit Augenmaß. Mehr brauchen wir nicht, um die schlimmsten Grobheiten des Wetters auszusitzen. Das ist uns auch 32 € für die Nacht wert. 

Nach dem Kaffee geht die Dogwalkerin mit den Mädels raus, jetzt wieder im Regen, dafür bieten sich reichlich Möglichkeiten im Umfeld des Campingplatzes sich zu bewegen.  

Abends spazieren wir zu Leo's Tavern, jener Kneipe, wegen der wir hierhergekommen sind und die für die Kultur steht, die wir der Natur gerade vorziehen. Es sind kaum 300 Meter bis zu einem der wegweisenden Pubs für die traditionelle irische Musik.  

1968 gründete Leo Brennan aus dem benachbarten Gweedore das Pub als Musikbühne, auf der er für seine Gäste irisches Liedgut, meist in traditionellem Irisch darbot. Kurz darauf stießen seine Kinder Moya (Harfe, Gesang), Ciarán (Kontrabass) und Pól (Gitarre, Flöte, Bongos) dazu, bald danach noch deren Zwillings-Onkel Noel Duggan (Gitarre, Gesang) und Pádraig Duggan (Gitarre, Mandoline, Gesang). Schon nach wenigen Auftritten versetzten die fünf jungen Leute das Publikum dermaßen in Begeisterung, dass Leo nicht mehr gebraucht wurde – die Gruppe Clannad war geboren. Mit leisen Tönen, feiner Instrumentalisierung und neuen Arrangements arbeiteten sie sich zu den Wurzeln der irischen Musik vor, vor allem die ihrer Heimat Donegal. Über allem schwebte die kraftvoll zarte Stimme von Moya. Bereits 1970 gewannen sie den Nachwuchswettbewerb des Letterkenny Folk Festivals mit der eigenen Komposition „Liza". Von da an ging es steil bergauf und Clannad war ein Inbegriff des Irish Folk. Der Chronist schätzt sich glücklich, die Truppe in den Jahren 1975 und 1976 im Rahmen des „Irish Folk Festivals" auf der Bühne erlebt zu haben. Sie setzten den zarten Kontrapunkt zu den robusten Vertretern der irischen Folklore wie beispielsweise Eddie und Finbar Furey oder den Buskers. 

1979 stieß die Brennan-Schwester Enya zur Band, die sie damit um ein Keyboard und eine zweite unverwechselbare Frauenstimme bereicherte. Enya verließ die Band bereits 1982 wieder und startete eine Weltkarriere: Wir alle erinnern uns noch an den Welthit „Orinoco Flow" aus dem Jahr 1988.  

Clannad lebte und machte ohne Enya weiter, arbeitete mit den Großen des Musikbusiness zusammen, wie etwa mit Bono von U2 oder Christy Moore und landete 1982 mit der Filmmusik für den BBC-Fernsehfilm „Harry's Game" einen Top-5-Hit in den UK-Charts. 2016 starb Pádraig Duggan, die Gruppe machte als Quartett weiter – und wurde von Covid ausgebremst. 2020 gaben sie ihr Farewell-Konzert, anderen Quellen zufolge sollen sie aber wieder auf Tour sein. Wer sich der irischen Folkmusik verbunden fühlt, kommt vor allem um die frühen Werke von Clannad nicht herum.  

Leo's Pub wirbt folgerichtig heute mit dem Untertitel „Home of Clannad and Enya". Das sichert dem Pub, das heute vor allem ein Restaurant ist, internationale Beachtung und Busladungen. Das bekommen auch wir zu spüren. Die tägliche Live-Musik, mit der geworben wird, hatte schon um 16 Uhr für eine Bus-Reisegruppe stattgefunden. Die Atmosphäre im Lokal ist sehr freundlich und umgänglich, aber stark touristisch geprägt, was sich langsam entspannt, als wir gegen 19 Uhr dort einlaufen.  

Weil die Tische noch besetzt sind, legen wir einen Stopp-Over an der Theke ein und haben so die Gelegenheit, eines jener tiefgründigen Gespräche übers Wetter zu führen, das man eigentlich nie führen müsste, aber nicht vermeiden kann. Als Erkenntnis aus dem Gespräch mit dem Thekenpersonal nehmen wir Folgendes mit: „Summer was yesterday" und „That's all we get, and we take what we get". Und endlich wissen wir, was wir bereits ahnten: Irland hat so wenig große Philosophen hervorgebracht, weil sie nicht gebraucht werden!  

Nun bekommen wir auch einen Tisch und die Gelegenheit, die Küche kennen und schätzen zu lernen. Die Portion Fish & Chips für die Reiseleiterin ist locker eine doppelte und ausgesprochen schmackhaft, die langsam geschmorte Lammkeule für den Chronisten ein Gedicht und gerade so groß, dass auch für die zuhause wartenden Mädels noch ein paar leckere Stückchen abfallen. Mit den Red Ales zahlen wir 50 €. Clannad- und Enya-T-Shirts sowie CDs lassen wir liegen.  

Als wir die Taverne gegen 21 Uhr verlassen, drisselt ein mieser Nieselregen auf uns nieder. Nach der anschließenden Nacht-Dränage der Mädels stürzt sich ein Kampfgeschwader Midgets in den Franz, weil man die Tür nicht so schnell zu bekommt, wie die sich ins Lichte und Trockene stürzen. Das nervt und verdirbt den Abend, aber wir dürfen nicht klagen; bisher waren wir von dieser Viecherei fast völlig verschont geblieben. Hier im Landesinneren, ohne Wind und im warmen Regen, laufen sie zur Hochform auf.  

Ob Enya diese Mistbiester im Sinn hatte, als sie den Orinoco besang?  

Die Nacht zum Donnerstag liefert immer wieder Regen, und der Morgen kommt sackschwer daher.  

Fianna beim Frühsport

An solchen Tagen ohne Ziel genießen wir die morgendliche Bettschwere bei schwerelosem Gedankenflug. Deswegen setzen wir uns erst um 11:30 Uhr zum Brunch zusammen, nachdem die Mädels ihren Frühsport mit eingebauter Dusche abgeschlossen haben.  

Es wird uns heute erstmals richtig bewusst, dass unsere Reise bald und unwiderruflich zu Ende geht und wir den Rücksturz zur Erde planen müssen. Ein erstes Ergebnis der verbrunchten Planungsrunde ist: Kein neues Ziel weiter im Norden, was allerdings nicht allzu schwer ist, denn viel mehr Norden geht sowieso nicht mehr. Jedenfalls ist der irische Norden bis auf weiteres für uns hier zu Ende, weil wir noch einige Ziele im Auge haben, die wir gerne anfahren möchten, ohne unter Druck zu geraten.  

Solche geistigen Entrümpelungsaktionen ziehen häufig häusliches Reinemachen nach sich. Deswegen machen wir ein wenig klar Schiff, vor allem auch in den Lebensmittellagern, um einen Überblick zu bekommen, was noch alles vorrätig ist, wenn wir uns jetzt langsam verabschieden. Wir wollen nicht mit vollen Lagern zurückkehren, aber auch nicht übersehen, einige wichtige Dingen für zuhause zu besorgen, vor allem Lemon Curd oder Yorkshire-Beuteltee für die schnelle Tasse morgens.  

Heute feiern die Midges Hexensabbat. Sobald man die Tür nur einen Spalt öffnet, strömen sie herein und kennen kein Erbarmen. In so emotional überfrachteten Lebenslagen zeigt sich der wahre Charakter der Mitmenschen, etwa wenn die Reiseleiterin bauernschlau fragt, ob der Chronist nicht doch einen gewissen Gefallen an garstigem Wind entwickeln könne, weil der doch unübersehbare Vorteile habe. Kann er und, ja, hat er! Menschen haben unter Folter schon ganz andere Geständnisse gemacht.  

Doch nachmittags entspannt sich die Wetterlage und gegen 17 Uhr hat die Sonne bereits wieder die Oberhand. Bleibt abzuwarten, ob es dabei bleibt.  

Abends versorgen wir uns mit dem großen Rest des gestrigen Fischs, allerdings ohne Chips. Die substituieren wir durch Tortiglioni mit Burrata-Füllung und würziger Tomatensoße. Lecko, dass wir darauf nicht schon früher gekommen sind.  

Glenveagh NP / Enniskillen
Slieve League / Malin Beg (Silver Strand)