Der Bairische Blues fährt ins Blaue - und ist dann mal weg

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Enniskillen / Westport

Westport

Samstag, 11.6.2022

Weil wir spät aus den Betten kommen, die Brotzeit gestern Abend üppiger ausgefallen ist als gedacht und wir uns heute noch etwas vorgenommen haben, beginnt der Tag mit einem kurzen Müslifrühstück.

Heute steht ein Besuch von Enniskillen auf dem Programm. Killen wen oder was? Änni killen? Nein, niemanden killen! Der englische Name Enniskillen leitet sich vom Irischen Inis Ceithleann ab und das bedeutet so viel wie 'Ceithleann's island', was uns einer Besonderheit von Enniskillen schon sehr nahe bringt: Die ganze Stadt ist quasi eine Insel. Sie liegt in einer Wasserlandschaft, die man fast mit den Everglades Floridas vergleichen kann. Urheber dieser Landschaft ist der River Erne, der in der Republik Irland, im County Cavan, entspringt, sich in wilden Windungen durch Sumpf- und Wasserlandschaften nach Norden ins County Fermanagh kämpft, dort, in Nordirland, weiter in tausend Seen und Armen mäandernd den rund 80 Kilometer langen Lough Erne bildet, bevor er bei Ballyshannon, nach 120 Kilometern, in die Donegal Bay fließt.  

Enniskillen liegt wie eine Insel zwischen dem mächtigen Lower Lough Erne im Norden und dem kleinen Upper Lough Erne im Süden, und wird dabei noch von einer ganzen Reihe von seeartigen Ausstülpungen des Flusses beglückt. Enniskillen ist eine einzigartige Wasserwelt und somit ein Top-Tipp für Wasserratten aller Art. Vor allem Kanuten, und Stand-Up-Paddler kommen rund um die Stadt zu ihrem Recht, auf den Seen selbstverständlich auch Segler; Platz gibt es genug. Der kleine Sillees River, an dem unser Stellplatz liegt, ist winziger Teil dieser riesigen Wasserwelt.  

Welche Gründe kann es sonst noch geben, Enniskillen zu besuchen? Wenige.  

Die Stadt hat eine übliche Clan-Geschichte und daher ein Castle, dessen zwei Türme eine Sonderheit in Irland darstellt. Diese Burg hatte die Aufgabe, die Wasserwege zu kontrollieren, und von den beiden Türmen konnte man jeweils einen scharfen Blick auf die beiden Seen im Norden und Süden werfen. Heute ist dort ein Waffen- und Militärmuseum untergebracht.  

Von den Auseinandersetzungen mit den Engländern und den vielen Aufständen wurde Enniskillen fast komplett verschont, nur 1987 ging eine IRA-Bombe, die englischen Polizisten galt, zu früh hoch und tötete elf Passanten, wofür sich die IRA entschuldigte, aber die Hinterbliebenen nichts kaufen konnten.  

Kneipen gibt es wie Perlen am Rosenkranz und auch auffällig viele Kirchen. Und die Stadt darf sich rühmen, nicht wenig zum Ruhm Irlands beigetragen zu haben, denn fast 400 Jahre (1618 – 2016) beherbergte sie die Portora Royal School mit angeschlossenem Internat, die einige spätere Berühmtheiten hervorbrachte. Die bekanntesten sind Oscar Wilde, Samuel Beckett und James Gamble (Procter & Gamble).  

Fahrradreparaturstation

Und warum lagern wir nun vor den Toren dieser Stadt, die eine Stadt ohne Eigenschaften zu sein scheint? Wegen der Kirchen oder der Museumsburg etwa, obwohl wir mit Militaria nicht sonderlich viel am Hut haben? Wegen der Kirchen oder gar wegen der Kneipen, und das schon vormittags? Der Chronist weiß es nicht genau, weil er in seiner Parallelexistenz als Chauffeur den Wegweisungen seiner Reiseleiterin folgt und selten nachfragt; so sind Chauffeure eben gestrickt. Er vermutet wegen des hübschen Namens, weil die Reiseleiterin in ihrer Eigenschaft als Weintrinkerin gelegentlich auch Weine wegen ihrer hübschen Etiketten kauft; da ist sie mitunter völlig schmerz- und schamfrei. Eine andere Möglichkeit könnte der Buttermarket sein, von dem unser Womo-Reiseführer behauptet, dass er ein hübsch gestaltetes Craft- und Design Centre sei, an dem niemand vorbeikäme. Und wir sind ja immer noch auf der Suche nach Wollwaren und anderen Souvenirs.  

Er wird ja sehen, was ihm heute blüht. Um 11:45 Uhr wirft er den Franz an, und wir verlassen bei bewölkten 16 °C den Riverside Marina & Caravan Park. Nach nur wenigen Kurven parken wir um 12 Uhr auf dem riesigen Parkplatz des Lakeland Forums, einem beeindruckenden Freizeitgelände mit Sportplätzen, Schwimmhalle, Parkanlagen und Bootsanlegern [N54° 20' 34,8'' W 007° 38' 30,9''].  

Wir lassen die Mädels als Schildwache beim Franz und stapfen los. Der erste Eindruck: Rein optisch ist Enniskillen die vernachlässigtste Stadt, die wir in Irland bislang besucht haben. Sie wirkt trotz einiger typischer bunter Häuser und Pubs grau und erschöpft. Es fühlt sich an, als ob die Luft hier dicker wäre als im Rest der Insel.  

Wie vermutet steuert die Reiseleiterin den Buttermarket an. Der ist am Samstagmittag – leer. Kaum jemand treibt sich herum, niemand hat offenbar Interesse an den tollen Designwaren und dem angebotenen Kunsthandwerk. Zu belanglos sind die Bilder in den Galerien und Ateliers, zu allerweltslangweilig der Trödel und das Kunsthandwerk. Wenn der Buttermarket wenigstens irgendwo in einer Ecke etwas Butter angeboten hätte, wäre der Besuch gerechtfertigt, aber der Schnickschnack, das Schundhandwerk, die Bilder, der Schmuck, die Töpfereien und all der Kram sind es nicht wert. Wir schauen überall mal kurz rein und schnell wieder raus.  

Auf einer kleinen Runde durch die Stadt, vorbei am Castle, an dem wir kein Interesse haben, erleben wir eine schwermütige Stadt, die uns enttäuscht. Nur der Fluss und das Leben auf ihm spendet der Stadt Lebensfreude, wie man es in vielen Städten erlebt, denen ein Fluss die Langeweile und Ödnis nimmt. Wasser spendet immer und überall Leben, nicht zuletzt in Enniskillen.  

Nach nicht einmal einer Stunde verlassen wir Enniskillen kurz vor 13 Uhr wieder. 15 Kilometer später überqueren wir die Grenze zur Republik Irland (die auch hier nicht existiert) und fahren weiter nach Südwesten. Nach der A 5 schmuggelt die Reiseleiterin klammheimlich die N 17 in die Route, weil sie die von den Saw Doctors und dem Kneipenpublikum in Kilkenny so enthusiastisch besungene Nationalstraße unbedingt auch einmal befahren will, um zu sehen, ob sie tatsächlich etwas Magisches und zu Besingendes an sich hat. Hat sie nicht! Aber wenn einer irgendwo zwischen zwei Dünen einen Sehnsuchtsanfall oder ein Erweckungserlebnis hat, schreibt er den Sandbergen eben Magisches zu und besingt sie. Nach der musikalischen N 17 setzen wir unsere Fahrt sang- und klanglos auf der N 5 fort. Regenschauer sind unsere Begleiter. 

Die Fahrt über diese meist gut ausgebauten Straßen vermittelt nichts von jenem Irland-Gefühl, von der rauen Schönheit und oft wilden Abwechslung, das uns bisher meist begleitete. Oft hört man, dass Irland im Landesinneren langweilig und öde sei. Wir empfinden es nicht als öde, aber schon als langweilig, ganz ähnlich, wie wenn wir durch heimische Kulturlandschaften rollen, die sich oft sehr ähneln und ebenfalls wenig Augenschmaus liefern. Manche Spötter behaupten, der liebe Gott habe an Irlands Ränder nur deshalb Berge gesetzt, damit die Iren nicht davonlaufen können. So schlimm ist es keinesfalls, aber besonders sinnenanregend ist die heutige Fahrt auch nicht. 

Um 15:30 Uhr kommen wir in Westport an. Wir steuern einen Stellplatz mitten im Ort an, der aber winzig und deshalb – Überraschung! – voll ist. Dieses Stellplätzchen ist doch sehr erbärmlich für eine Kleinstadt wie Westport, die einiges zu bieten hat und deshalb gerne besucht wird, schon gar am Samstag.  

Aber es gibt noch einen großen Campingplatz, der allerdings einen Makel hat: Im Internet wird berichtet, dass dort keine Hunde zugelassen seien. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt! Also fahren wir zum Caravan & Camping Park Westport House, einen guten Kilometer nordwestlich am Stadtrand [N 53° 48' 20,3'' W 009° 32' 15,8'']. Wir fragen nach einem Platz, aber bitte mit Hund. Das ist überhaupt kein Problem, das Internet verbreitet also wieder einmal gequirlten Bullshit. Ein Problem ist dagegen der Füllgrad des Campingplatzes. In der Stadt und auf den Freiflächen hier draußen findet ein großes Familien- und Kinderfest statt, was uns nicht entgangen ist; hier wimmelt es rundum wie vor einem Bienenstock.  

Es dauert, bis die besonders nette junge Irin mit den besonders langen roten Haaren ihr Katasterblatt nach einem Platz für einen Acht-Meter-Franz durchforstet hat, aber dann gibt sie grünes Licht: Einen Overflow-Platz könne sie uns noch anbieten, allerdings ohne Strom. Brauchen wir nicht, Bingo. Dann bittet sie uns, draußen vor der Schranke ein paar Minuten zu warten, bis sie die anderen Anfragen und noch einiges mehr geregelt habe, um uns anschließend zu unserem Overflow-Platz zu geleiten. Also warten wir. Und warten. Und warten. Bis wir dann doch mal nachfragen, ob wir eventuell in Vergessenheit geraten seien, was sie nur unzulänglich entkräften kann. Doch jetzt werden wir zu unserem Nachtquartier geleitet, das, außer dass es dort keinen Strom gibt, nichts Überflüssiges an sich hat, aber immerhin mit 32 € zu Buche schlägt.  

Um 16:15 Uhr liegen wir fest. Es ist bewölkt bei 16 °C. Beim anschließenden Nachmittagssnack mit Scones, Double Cream und Jam lassen wir mal auf uns einwirken, was rund um uns abgeht. Und das ist eine Menge. Westport House Camping gehört zu jenen Plätzen, jedenfalls unter den aktuellen Nachfragebedingungen, bei denen alles kreuz und quer durcheinandersteht, Womos, Caravans und Zelte in trauter und sehr enger Nachbarschaft. Dazwischen geht es zu wie auf einem Ritterfest, es wuselt und tobt, Erwachsene, Kinder, Hunde, alles in steter Bewegung, Bälle und Musikfetzen fliegen uns um die Ohren, dazwischen Fahrräder und Camper, entweder auf der Suche nach der Ver- und Entsorgung oder ihrem Platz, weil die rothaarige Schrankenwärterin einen Overflow hat und nicht mehr hinterherkommt.  

Wir sehen uns das Treiben an und nutzen die Gelegenheit, die Eckdaten von Westport zusammenzufassen. Die Stadt liegt an einer Atlantikbucht, der Clew Bay, im County Mayo. Ursprünglich war die Stadt ein winziges Dorf mit dem Namen Cathair na Mart (Stadt des Schlachtochsen), und das ist auch heute noch ihr irischer Name. Zur Stadt wurde sie Anfang des 18. Jh., als sich eine gewisse Familie Browne dort ihren herrschaftlichen Landsitz Westport House errichtete und das Dorf als Siedlung für die in Westport House Beschäftigten zur Stadt aufgepeppt wurde. Demzufolge wurde Westport auf dem Reißbrett entwickelt und ist heute eine der ganz wenigen nicht natürlich gewachsenen, sondern planmäßig angelegten Städte Irlands. Heute leben dort etwas mehr als 6.000 Menschen.  

Westport hat auch einen entscheidenden Anteil am Lauf der irischen Geschichte. Mitte 1879, auf dem Höhepunkt der Hungersnot, hielt Charles Stewart Parnell bei einem land meeting in Westport eine Rede, die zur Initialzündung für die irischen Bauernbewegung wurde und sich als Beschleuniger für die irischen Nationalbewegung erweisen sollte. Teilnehmer der Veranstaltung waren Landarbeiter und kleine Pächter, die wegen der Missernten, vor allem bei Kartoffeln, ihre Pacht nicht mehr bezahlen konnten, aber – Elend hin, Hungertod her – von den englischen Grundbesitzern vertrieben wurden oder von der Vertreibung bedroht waren. Parnells feuriger Aufruf, sich nicht von Haus und Hof verjagen zu lassen („Hold a firm grip of your homesteads and lands") führte zur Gründung der Irish Land League noch im Oktober des gleichen Jahres. Diese ILL hatte nicht nur weitreichende politische Folgen, sondern agierte als eine Art Gewerkschaft, indem die Pächter die Pacht an die ILL bezahlten, die die Gelder so lange zurückhielt, bis die Landlords einlenkten. Auf diese Weise wurden mehrere prominente Landlords gezwungen, ihre Pachtforderungen um 25 % oder mehr zu reduzieren.  

Heute ist Westport ein beliebtes Ziel für Wassersportler, vor allem aber ist es ein Zentrum fürs Hochseeangeln. Und Westport hat eine sehr lebendige Pub-Szene, auf die wir später noch zu sprechen kommen.  

Ein kleines Juwel, von dem kaum jemand weiß, findet man vor der Stadt, draußen in der Bucht. Dort liegt eine Unzahl kleiner und winziger Inseln, eine davon ist Dorinish Island. 1967 kaufte John Lennon die Insel für 1.700 £. Allerdings war er dort nur ein einziges Mal, konnte mit der kargen Insel nichts anfangen und überließ sie einer Hippie-Familie. Nach seiner Ermordung 1980 verkaufte seine Witwe Yoko Ono die Insel für 30.000 £ und spendete den Erlös einem irischen Waisenhaus. Heute ist sie wieder unbewohnt und wird höchstens ab und an von enthusiastischen Beatles-Fans besucht und lässt sich als Beatles-Island bezeichnen.  

Über all das Grübeln stellt sich Appetit ein, den wir in einem Restaurant oder einer Bar am Hafen von Westport bedienen wollen. Um 18:30 Uhr machen wir uns auf den Weg, vorbei an dem großen Parkplatz, auf dem jetzt immer noch Familienfest ist, durch den Park an einer Ausstülpung des Carrobeg Rivers, von dessen gegenüberliegendem Ufer das ansehnliche Westport House herübergrüßt, dann über The Quay, vorbei an einer nicht enden wollenden Reihe von Bars, Lounges und Restaurants, die wir alle begutachten und für mehr oder weniger geeignet befinden. Schließlich entscheiden wir uns für die Empfehlung der Rezeptionistin mit den langen roten Haaren für The Tower – Bar und Restaurant. Bis hierher waren das etwa eineinhalb Kilometer, für die wir 15 Minuten brauchten.  

In diesem Restaurant steppt der Bär und es ist brechend voll, weswegen die Frage nach einem Platz auf der Stirn eines der vielen jungen Bediensteten ein verzweifeltes Stirnrunzeln produziert. Doch er wird fündig und führt uns zu einem winzigen Tischchen direkt unter einem mächtigen Fernseher. Dort gibt's Sport und rundum geht's zu wie im Tollhaus. Ja, mei…  

Anstatt die Speisenkarte zu studieren, wandern unsere Blicke ständig steil hinauf über unsere Köpfe und dann wieder zur Seite, zu einem Tisch voller junger, giggelnder und wellenartig kreischender Irinnen. Was ist hier los? Der mit allen Sportwassern getaufte Chronist verzweifelt am Spiel auf dem Fernseher: Fußball ist es nicht, obwohl der Ball mit dem Fuß gespielt wird, American Fußball gleich gar nicht, dafür geht es zu gesittet zu. Rugby ist es auch nicht, weil nie gerauft und gerangelt wird. Zefix …Wenn die Lärmwelle vom Nebentisch wie toll aufbrandet, ist ein Ball entweder in einem bekannten Fußballtor gelandet oder über dessen Querlatte, wie beim Football, getreten worden. Herr, steh uns bei: Was ist das denn? Dass wir immer noch keinen vertieften Blick in die Speisekarte getan haben, nimmt uns niemand übel, weil nicht nur der Mädelstisch nebenan, sondern auch das gesamte Personal wie magnetisiert auf einen der vielen Fernseher starrt, mit denen das ganze Restaurant vollgehängt ist, und je nach Gefechtslage kollektiv kreischt oder aufstöhnt.  

In solchen Fällen muss die Encyclopedia Digitalica helfen herauszufinden, was dort gerade gespielt wird. Und auf die alte Tante ist Verlass: Über unseren Köpfen wird das Viertelfinale der „"All-Ireland Senior Football Championships" ausgetragen, an dem sich 31 Countys beteiligen (Iren im Ausland werden zusätzlich durch je eine Mannschaft aus London und New York repräsentiert), nur Kilkenny macht nicht mit. Vermutlich konzentriert man sich dort ausschließlich auf das Hockey-ähnliche Hurling, in dem man nationale Spitze ist. Dieses Viertelfinale wird zwischen den Countys Mayo und Kildare ausgetragen – und bekanntlich befinden wir uns gerade im County Mayo. Jetzt wird manches klar. Noch immer nicht klar ist jedoch die Sportart, aber dieses Problem haben wir auch schnell gelöst: Gaelic Football!  

Das Spiel trägt Elemente aus Rugby und Fußball, der Ball wird also mit Händen und Füßen gespielt, geworfen und getreten. Eine beliebte Art, den Ball zu führen, ist das sogenannte Toe-Tapping. Dabei wird der Ball im Laufen, nach maximal vier Schritten, vom Fuß wieder in die Hand gespielt. Der Ball darf auch wie beim Hand- oder Basketball auf den Boden geprellt werden. Im Ballbesitz darf ein Spieler den Ball einmal zwischen den Händen wechseln, allerdings müssen beim Wechseln beide Hände gleichzeitig den Ball berühren, er darf ihn also nicht von einer Hand in die andere werfen. Beim Gaelic Football erzielt man Tore und Punkte. Ein Tor ist, wenn der Ball unter der Querlatte des Tors über die Torlinie getreten wird, so ein Tor ist drei Punkte wert. Dabei muss sich der Ball immer in der Luft befinden, er darf also nicht über die Torlinie getragen werden. Je einen Punkt gibt es, wenn der Ball über die Torlatte, zwischen die beiden hohen Stangen (wie beim Rugby) getreten oder geworfen wird. Die Zählweise überfordert allerdings den versimpelten Fußballkenner ein wenig. Wenn auf der Ergebnistafel steht: Mannschaft A 2-12 Mannschaft B 0-15 bedeutet das, dass A zwei Tore à 3 Punkte und 12 Punkte gemacht hat, was zusammen 18 ergibt. Mannschaft B hat kein Tor erzielt, aber 15 Punkte gemacht, was ein Gesamtergebnis von 18:15 ergibt.  

Heute haben wir zweifaches Glück, weil das Ergebnis immer schon kalibriert angezeigt wird und zweitens, weil Mayo mit 19:14 gewinnt, worauf sich, nach einem kurzen Jubelsturm, das Lokal schlagartig leert und auch das Personal wieder Zeit für uns hat.  

Wir bestellen als Vorspeise für uns zusammen wieder einmal Seafood Chowder. Die Reiseleiterin lässt gebackene Calamari folgen und der Chronist Hähnchencurry. Der Chowder ist wieder ein wenig anders als bisher, aber ebenfalls tadellos, die Calamari ohne Beanstandung und das Curry ein wenig belanglos, was daran liegen mag, dass dem Chronisten noch die Phantomschmerzen des Currys aus dem Old Bakehouse von Miltown Malbay auf der Zunge brennen. Wenn man das in die Bewertung einbezieht, ist es gut, könnte aber etwas mehr Feuer haben. Mit Bier und Wein bezahlen wir schließlich knapp 50 €.  

Jetzt geht es weiter ins Herz der Stadt, etwa zweieinhalb Kilometer über die Quay Road in die Bridge Street. Mit jedem Meter beschleunigt sich unser Schritt, weil sich ringsum tintenschwarze Wolkenberge türmen. Aber nach einer sehr guten halben Stunde erreichen wir noch immer trockenen Fußes unser wichtigstes Ziel des heutigen Tages: Matt Molloy's, eines der berühmtesten Singing-Pubs Irlands. Und hier ist es noch proppenvoller als im Restaurant. Schockschwere Not! Die Reiseleiterin jubiliert und ihr Herz hüpft einen wilden Reel, während der Chronist von einer Atemnot-Attacke in die andere taumelt.  

Was ´ne Kneipe! Die Luft trägt schwer am Schweiß- und Bierdunst. Mehrere kleine Räume reihen sich hintereinander, die überwiegend aus noch kleineren Nischen bestehen, die alle mehr oder weniger gut besetzt sind. An der langen, typischen Theke stapeln sich die Durstigen in Zweier- und Dreierreihen, um ans schwarze Gold zu kommen. Wir finden gleich hinter der Eingangstür eine Nische, die nur von zwei übergewichtige Amerikanerinnen besetzt ist, uns aber noch zwei winzige Hocker freigelassen haben.  

Da sitzen wir nun bei einem Guinness und warten, bis irgendwann eine Session startet, meist erst nach 21 Uhr, und schauen uns um. Die Wände hängen voll mit Bildern, die die große Zeit des Irish Folk repräsentieren: Chieftains, Bothy Band, Planxty, dazu Bilder von Prominenten aus der ganzen Welt, die den Protagonisten dieser Musik hier in Matt Molloy's huldigten. Wann, wenn nicht hier und jetzt wäre es Zeit, dieser Musik und ihrem Spitzenpersonal ein paar Minuten zu spendieren. Wem das zu langatmig ist, darf die nächsten Zeilen ohne schlechtes Gewissen, aber mit anschließend sträflich fehlendem Wissen, überlesen.  

Schon in Meenaleck haben wir einige Worte über den neuen musikalischen Geist verloren, den Clannad in die Musikwelt brachte. Aber sie waren nur der Anfang dieser Entwicklung zur Neuinterpretation und Besinnung aufs Traditionelle.  

Allerdings konnten sie schon auf noch ältere Vorbilder zurückgreifen: die Chieftains. Diese Formation gründete sich bereits im Jahr 1962 in der Besetzung Paddy Moloney (Uilleann Pipes, Tin Whistle), Martin Fay (Fiddle), Michael Tubridy (Flöte, Tin Whistle), Seán Potts (Tin Whistle) und David Fallon (Bodhrán), der kurz darauf aus Altersgründen von Peadar Mercier ersetzt wurde. In unterschiedlichen Besetzungen zog die Band um die ganze Welt, spielte in den größten Häusern und Stadien und wurde bis 2012 zum Inbegriff der anspruchsvollen irischen Musik. Kaum ein(e) Große(r) der Musikszene, die nicht mit den Chiefs auf der Bühne standen und sich mit ihnen sehen ließen. Die Verbliebenen der verschiedenen Formationen, viele sind es nicht mehr, finden sich im kleinen Kreis immer mal wieder zusammen, meistens bei Matt Molloy's, etwa bei einem Besuch Joe Bidens im Jahr 2016.

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VIDEOS — MATT MOLLOY'S

Joe Biden zu  Besuch im Matt Molloy's - und die Chieftains spielten auf.

Auf diesem Boden blühte ab 1972 eine Band auf, die zum besten gehörte, was die irische Folklore jemals hervorbrachte: Planxty. Die Namen der Gründungsmitglieder versetzen viele Kenner, vor allem aber Könner, in Verzücken: Andy Irvine (Gesang, Mandoline, Irische Bouzouki), Christy Moore (Gesang, akustische Gitarre, Bodhrán), Dónal Lunny (Irische Bouzouki, Gitarre, Synthesizer) und Liam O'Flynn (Uilleann Pipes, Flöte). Im Laufe der Jahre spielten die Mitglieder der Band immer wieder in anderen Formationen, kehrten zurück und führten neue Mitglieder an die Band heran; ein Kommen und Gehen über Jahrzehnte, nur die Qualität und Tiefgang ihrer Interpretationen und Kompositionen blieb immer gleichermaßen hochwertig, wenn auch der kommerzielle Erfolg zunehmend zu Wünschen übrig ließ. 

1975 betrat dann eine weitere wegweisende Formation die Irish Folk-Bühne: die Bothy Band. Es war Dónal Lunny, der Planxty in jenen Tagen verlassen hatte und eine neue Formation schuf. Mit von der Partie war Paddy Keenan (Uilleann Pipe) und – hier haben wir nun den Grund für die langatmigen Ausführungen – Matt Molloy (Flöte). Mit weiteren Musikern brachte die Band bis 1978 noch einmal neue Farben und Töne in die traditionelle irische Musik. 

Nach der Auflösung der Bothy Band 1978 schloss sich Matt kurz der reformierten Planxty an. Nach zwei Alben und einer Tour stieg er wieder aus. Als 1979 Michael Tubridy und Seán Potts die Chieftains verließen, lud Paddy Moloney ihn auf den vakanten Flötenplatz ein, und Matt Molloy ließ sich nicht lange bitten. Heute gehört er mit 75 Jahren zum „letzten Aufgebot" der Chiefs und ist im Wortsinn ein Urgestein des Irish Folk. Wen Matt nach Westport ruft, der sagt nicht ab, und wen er nicht ruft, der kommt aus freien Stücken in sein Pub. So wie wir. 

Gegen halb Zehn dringt Musik aus der Tiefe der Kneipe, und wir schlagen uns dorthin durch. Hier im letzten Raum ist die Jam-Corner des Pubs untergebracht. Er ist erwartungsgemäß stopfvoll, die Leute stehen dicht an dicht oder kauern auf wadenhohen Hockern. Wir stellen und kauern uns dazwischen, links eine einladende Geste und rechts ein Willkommens-Gesicht, hier ist Platz für viele und für jeden.  

Die Verursacher jener Klänge, die uns ins Allerheiligste von Matt Molloy's gelockt haben, sind ein schon in die Jahre gekommener Fiddler, eine sehr junge Harfinistin, ein noch jüngerer Flötist und Concertina-Spieler und eine ziemlich reife Flötistin mit der Holz-Querflöte. Der ältere Fiddler ist erkennbar der Ton- und Taktgeber. Die Stimmung ist gelöst und voller Lachen. Die Musik der Vier knüpft uns einen Fliegenden Teppich, der uns davonträgt, irgendwohin, den Chronisten jedenfalls weit in die Vergangenheit der frühen 70er Jahre, als er das unbezahlbare Glück hatte, all die oben genannten Großmeister des Irish Folk lebend und in Farbe auf der Bühne erleben zu dürfen. Heute, in diesem Pub und auf der Musik dieser Vier erlebt er eine Zeitreise im 6/8-Takt.  

Nach kurzer Zeit stößt eine junge Frau mit klassischer Querflöte dazu, und noch ein wenig später ein junges Paar, sie mit Harfe, er mit der Fiddle, beide kaum über 20 Jahre. Auch die Neuankömmlinge, obwohl sie sich zumindest teilweise nicht kennen, brauchen keine Einweisung, sondern reihen sich sofort ein. Das ist das Geheimnis dieser Musik. Jeder traditionelle irische Musiker kennt alle einschlägigen tunes, und wenn er sie auch spielen kann, kann er überall mitspielen. Es braucht nur jemanden, der die kurzen Anweisungen gibt; schon das Anheben einer Augenbraue reicht dann meist, und alle wechseln auf einen Ton höher.  

Die Music Corner von Matt Molloy's macht heute, wie fast alle Tage, ihrem Namen alle Ehre. Was wir hören ist traditionelle irische Musik vom Besten und macht nicht nur endlos viel Spaß, sondern nährt die Hoffnung, dass sie noch lange nicht aussterben wird. Dafür sorgt der exzellente Nachwuchs, wie wir ihn heute zu hören bekommen.  

Das alles findet noch dazu vor einem in unsere Vorstellung schrägen Hintergrund statt. Wenn man nämlich die hintere Tür des Raums öffnet, um auf die Toilette zu gelangen, die nur über einen Hinterhof zu erreichen ist, dröhnt von dort wummernder Techno-Beat ins Allerheiligste, weil draußen eine ganz normale Party stattfindet, die dort genauso hingehört wie die jigs und reels in der Musikecke. Daran stößt sich hier niemand, niemand fühlt sich von dem Gedröhn belästigt oder gestört; jedem Jeck das Seine. So ist das in Irland und so wird es jeden Tag gelebt. Immer wenn jemand aufs Klo muss, erstickt die Tradition kurz im Elektrosumpf, um gleich darauf wie Aphrodite wieder daraus aufzuerstehen. Diese Musik ist unkaputtbar, und solange es so viele junge Musiker und Musikerinnen gibt, die sich dafür begeistern, wird sie nicht sterben. Ein bisschen fühlen wir uns wie zuhause im tiefen Oberbayern, wo die Dorfjugend kein Problem hat, einmal in der Woche das Platteln zu trainieren und an den restlichen Tagen zu den Elektro-Beats zu tanzen.  

Die Nähe und die Herzlichkeit beschert uns an diesem Abend aber nicht nur einen unvergesslichen Musikabend, sondern auch viele heitere und anregende Gespräche. Man ist sich nahe und kommt sich zwangsläufig näher. Wenn jemals eine Werbeparole zutreffend gewesen sein sollte, dann diese, und zwar hier für uns bei Matt: Mittendrin statt nur dabei. Wir wussten, warum wir Matt Molloy's besuchen wollen, hatten aber keine Ahnung, wie viel reicher wir die Kneipe wieder verlassen würden. Dieser Abend hat uns nicht nur glücklich gemacht, sondern in gewisser Hinsicht verändert. Die zwei, die sich um 23 Uhr mit einem Taxi zum Campingplatz chauffieren lassen (irischer Standardpreis: 8 €), sind nicht die gleichen, die ihn am späten Nachmittag verlassen haben.  



Roundstone / Shannonbridge
Glenveagh NP / Enniskillen