Der Bairische Blues fährt ins Blaue - und ist dann mal weg

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Roundstone / Shannonbridge

Roundstone

Sonntag, 12.6.2022

Nachts scheinen es die gestern zu unserem Vorteil noch zögerlichen Schwarzwolken endlich nicht mehr halten zu können und lassen alles unter sich. Es schüttet aus allen Sperrventilen. Doch es geschieht, was wir nun schon so häufig erlebten, dass sich das Wetter mit Tagesanbruch beruhigt, aber 12 °C um 10 Uhr schreit noch nicht nach Badehose.  

Der Gang zur Dusche offenbart uns, dass Camping Westport House mit diesem Publikumsandrang eindeutig überfordert ist. So hoffen wir wenigstens, denn der Zustand der Duschen und Toiletten kurz nach 10 Uhr lässt nur zwei Schlussfolgerungen zu: Entweder ist das Platzmanagement hoffnungslos überfordert oder alle Dreckschweine der Welt geben sich hier ein Stelldichein. Wir haben in England und Irland durchgehend nur sehr gepflegte Sanitäranlagen erlebt, das hier ist ein Saustall. Was damit jedoch nichts zu tun hat, ist die Ausstattung der Duschen, dafür sind nicht die Schweine aller Länder verantwortlich, sondern die Platzbetreiber: Keine Haken, keine Ablagemöglichkeit, kein Hocker, einfach nichts. Wahrscheinlich ist sogar eine Gitterzelle in Guantanamo komfortabler ausgestattet als eine hiesige Duschkabine. Wir verlegen die körpernahen Dienstleistungen in den Franz.  

Die Dogwalkerin nimmt die Mädels noch auf eine kleine Runde um den See mit, vorbei am Westport House und am Denkmal für die berühmte Piratin Grace O'Malley, die hier ihren Platz gefunden hat, weil Westport House auf den Ruinen einer ihrer Burgen erbaut wurde, und zwar von John Browne, dem Ehemann ihrer Ur-Ur-Ur-Ur-Enkelin Maude Burke.  

Um 11 Uhr verlassen wir den Campingplatz und Westport wieder, die uns beide, jeder auf seine Weise, einen tiefen Schauer beschert haben. Es hat noch immer 12 °C und es ist bewölkt.  

Wir fahren nach Süden, zuerst durchs County Mayo und dann schon wieder durch Connemara und können uns an diesen Landschaften einfach nicht sattsehen, selbst heute, da sie oftmals nur schemenhaft unter schweren Wassersäcken hervorlugen. 

Gewissermaßen sind wir heute Getriebene, getrieben von dem Bedürfnis, wärmende Plaids für die frischen Abende zuhause mitzubringen, solche, wie die Reiseleiterin schon einen vor eineinhalb Wochen erstanden hat. Und die, so viel haben wir lernen müssen, gibt es offenbar nur bei Malachy Kearns in Roundstone. Aber nicht nur diese Abendumhänge sind es, die uns vorantreiben, sondern auch die Vorfreude, diesem irischen Urgestein noch einmal begegnen zu können.

Heute, am Sonntag, scheint Roundstone noch voller zu sein als neulich unter der Woche. Langsam kämpfen wir uns durch die engen Straßen, bis wir uns wieder bis zur Monastery Road durchgeschlagen haben und genau dort parken, wo wir schon am 31. Mai den Franz abgestellt hatten: direkt gegenüber Malachys Geschäft [N 53° 23' 31,4'' W 009° 54' 58,7''], in dem Malachy sieben Tage die Woche für seine Kunden da ist.  

Es ist 12:30 Uhr, als wir bei Malachy durch die Tür treten. Der Herr der Rahmentrommeln steht hinter seinem Ladentisch, blickt uns entgegen und fragt, ohne zu zögern, ob irgendetwas mit unserer Bodhrán nicht in Ordnung sei. Nein, antworten wir, mit der Trommel ist alles in bester Ordnung, nur mit der Trommlerin nicht, weil ihr das Trommeln noch sehr schwer von der Hand geht. Und außerdem wollten wir noch seinen Laden plündern.

Malachy deutet auf einen Hocker mitten im Laden und fordert die Nachwuchstrommlerin auf, sich dorthin zu setzen und geht los, um sich eine Trommel zu holen. Die folgende Viertelstunde wird zur Privataudienz, bei der die Schülerin vor allem lernt, wie der beater gehalten wird und welche Handbewegungen sie auszuführen habe. Nebenbei plaudert der Meister, erzählt, dass er die Trommelei von Kevin Conneff erlernt habe, der 1976 Peadar Mercier bei den Chieftains ersetzt hat, und der übrigens einer seiner besten Freunde sei, gleich nebenan lebe, es sei eben klein, sein Irland, jeder kenne jeden.

Nach dieser Lektion durchforsten wir das Angebot an Schulterumhängen für zuhause gebliebene Frostbeulen. Schwer fällt uns die Auswahl wegen der Qual der reichlichen Wahl, aber schließlich trägt der Chauffeur einen Armvoll Plaids zum Ladentisch und die Reiseleiterin noch ein paar Kleinigkeiten hinterher, die sich neben den Plaids wie eine Handvoll Grabbeigaben ausnehmen. Als wir an der Kasse stehen, um unsere Schulden zu begleichen und die Reiseleiterin fragt, ob die Kinderzeichnung neben der Kasse von einem Enkelkind sei, legt Malachy los, sprudelt vor Begeisterung über seine Enkelin, drei Jahre sei sie und wenn sie das Geschäft betrete, was übrigens jede Minute zu erwarten sei, sei es, als wenn eine Bombe einschlüge. Ob wir vielleicht noch einen Kaffee wollten und vielleicht einen frisch von seiner Frau gebackenen Apfelkuchen? Beim Anblick des Kuchens ergibt sich die Antwort von selbst.  

Mit einem vollgepackten Tablett wandern wir zu einem Bistrotischchen neben dem Fenster, Malachy lässt sich mit einem Kaffee gleich nebenan nieder, und wir versinken von Bissen zu Bissen und von Schluck zu Schluck tiefer in Malachys Welt.  

Dieser Mann ist ein Ereignis und eine Fundgrube an Lebensweisheit und Anekdoten. Malachy ist auf der ganzen Welt bekannt wie ein bunter Hund, zumindest in den Kreisen, die irgendetwas mit den Chieftains und Riverdance zu tun und am Hut haben, und das sind wirklich viele. Nicht zuletzt in USA ist er eine Institution, aber wir haben selten einen uneitleren, unprätentiösen, sogar eher schüchternen Menschen erlebt. Wenn er erzählt, dass der aktuelle Präsident Irlands sein Nachbar und guter Freund sei, protzt er nicht damit, sondern schreibt es Irland zu, in dem eben jeder jeden kenne, und er nichts dafür könne, dass der Mann in seiner nächsten Nachbarschaft lebt, warum auch nicht, wer würde denn nicht gerne in Connemara leben.  

Nächste Woche, erzählt er, käme Patrick Duffy vorbei, ihr wisst schon, der Bobby Ewing von Dallas. Der habe, wie man an seinem Namen unschwer erkennen könne, auch irische Wurzeln, und wenn er einen Dreh in Irland hat, schaut er immer bei ihm vorbei. Nächste Woche müsse er irgendeinen Trailer drehen. Da sei allerdings damit rechnen, dass es nicht so gemütlich zugehen werde wie gerade eben.  

Ein Kunde tritt ins Geschäft. Das bringt Malachy nicht aus der Ruhe, er stürzt sich nicht auf ihn, sondern lässt ihn mit einer kleinen Geste wissen, dass es sich umsehen solle. Er wäre ja da, wenn er Fragen habe. Der Kunde hat tatsächlich eine Frage: Ob er eventuell die Toilette benutzen dürfe. Darf er, nicht aber, ohne von Malachy den Rat zu bekommen, dass die bunten Steine im Pinkelbecken nicht für den Verzehr geeignet seien. Ist doch eine Sauerei, wendet er sich wieder an uns, in der ganzen Stadt keine öffentliche Toilette. Wo sollen die Leute denn hin, wenn sie müssen? Klar: In ein Pub oder ein Café, das hebt den Umsatz. Bei ihm dürften alle pinkeln. Vor Jahren war er im Stadtrat, als damals die Frage nach öffentlichen Toiletten diskutiert wurde und er dafür war, aber keine Zustimmung fand, weil, wie der Bürgermeister die Mehrheit überzeugen konnte, sich auf diesen doch sowieso nur die Schwulen träfen…  

Malachy äußert sich begeistert über die Freunde seines Adoptivsohns, einem Ghanaer, lauter junge und laute Burschen, denen man immer nachsage, dass sie nichts taugten und sich um nichts scherten, aber sich ein ganzes Wochenende den Hintern aufrissen, als er einen Wasserschaden hatte, und sie ihm alles wieder reparierten. Geschickte Burschen und mit dem Herz am rechten Fleck. Man solle halt immer ein wenig genauer hinschauen, bevor man ein Urteil spricht. Dann stimmt er ein Loblied auf die Deutschen an, erkennbar nicht wegen uns, sondern aus Überzeugung, weil Deutsche aus seiner Erfahrung nie nach dem Preis fragten, sondern immer nur nach der Qualität. Und wenn die stimme, fragen sie schon zweimal nicht mehr nach dem Preis. Außerdem leisteten die Deutschen so immens viel für Europa, was ihnen nicht gedankt würde, wofür es langsam höchste Zeit sei. Wir schämen uns beinahe vor Rührung.  

Und während wir plaudern und er so erzählt und unermüdlich von seiner Enkelin schwärmt, jener Bombe, die bislang noch immer nicht hier eingeschlagen hat, wird er stiller und gesteht, dass er eben, wie so viele Männer, das Heranwachsen seiner Tochter versäumte: too much beer, too much here and too much there, too much in the air and and too much on air… Aber seine Enkelin sollte wenigstens einen Opa erleben. Und wie er so in sich gewandt erzählt, tippt er auf seinem Handy herum, hebt dann den Kopf, lächelt schelmisch und berichtet, dass er soeben seiner Tochter einen kleinen Betrag überwiesen habe, schließlich habe er ja heute mit uns ein gutes Geschäft gemacht. Und die Tochter sei ja wieder alleinerziehend, die könne jeden Euro gebrauchen. Fast hätten wir noch ein paar Wärmedecken mehr gekauft.  

Doch dann wird es wirklich ergreifend. Er fragt uns, wo wir denn gewesen seien, seit unserem letzten Besuch und was wir so gesehen und erlebt hätten. Als wir antworten, dass wir heute direkt aus Westport kämen, wird er, zumindest für einen Iren, fast hektisch und stößt hervor: Ihr wart doch hoffentlich bei Matt?! Na, klar waren wir bei Matt! Und nun lässt er uns in seine Welt mit den Chieftains eintauchen, die er natürlich alle kenne, man müsse natürlich besser sagen: kannte, weil eben die meisten schon tot seien; Paddy Maloney, der Urvater und Chief der Chiefs erst letzten Oktober. Aber so ist es, sind halt alles alte Leute, wie er. Aber Matt ist ein wirklich guter Freund und Kevin Conneff – klar. Vor fast dreißig Jahren habe Maloney ihn gefragt, ob er nicht bei den Chiefs einsteigen wolle, aber er habe abgesagt. Dem Chronisten fällt beinahe das letzte Stück Apfelkuchen aus dem Mund: Abgesagt? Bei den Chieftains? Malachy schaut zu Boden, richtet dann den Blick direkt auf uns und haucht: I had no confidence… simply no confidence. Vermutlich war es in diesem sowieso nicht lauten Laden, wenn nicht gerade getrommelt wird, noch nie so still wie in diesem Augenblick. Er hat sich nicht getraut und bereut es, bereut es aber auch nicht. Es hängt wie eine nie beantwortete Frage über seinem Leben.  

Und wisst ihr was? An dem Tag, als ich heiratete, spielten die Chiefs in der Carnegy Hall in New York und Maloney erzählte dem Publikum, dass drüben in Irland einer säße, der heute heiratet, für den sie zu diesem Tag extra ein Lied geschrieben hätten, das sie ihm hiermit widmen wollten, und dass er jener unverfrorene Kerl sei, der doch tatsächlich als erster und einziger das Angebot, bei den Chiefs mitzuspielen, ausgeschlagen habe.  

Uns läuft es frostig den Rücken runter, können uns aber beherrschen, nicht eines der frisch erstandenen Plaids überzulegen. Was für ein Leben! Und was für ein uneitler Kerl, dieser Malachy Kearns. So viel Nähe und Offenheit bei so viel Prominenz ist uns noch nirgendwo begegnet. Der Chronist spürt, dass er in dieser Bodhrán-Werkstatt gerade den Höhepunkt seiner Reise erlebt. Keinen Geparden, kein Schloss, keinen gleißend weißen Strand und keine Landschaft der Welt würde er gegen die Begegnung mit diesem Menschen eintauschen.  

Wahrscheinlich ist es ein Segen, wenn auch ein vergifteter, dass wir heute noch weitermüssen, sonst würden wir womöglich hier in Malachys Reich noch den Rest unserer Tage verbringen. Wir müssen uns losreisen, nicht ohne Malachy zu versprechen, dass Roundstone ein Pflichttermin auf jeder zukünftigen Irlandreise sein werde. See you…  

Um 14:35 Uhr rollen wir davon. Über die N 59 geht es nach Osten, vorbei an Galway und dem Lough Corrib. Nach der Begegnung mit Malachy scheint uns Irland noch schöner zu sein als es sowieso schon ist. Wir versinken in dieser unbeschreiblichen Inselwelt und würden kaum registrieren, wenn wir wie Peterchen unvermittelt zu einer Mondfahrt abheben würden. Fast sind wir glücklich, dass es auf dieser Straße kaum Buchten und Möglichkeiten gibt anzuhalten und zu fotografieren; so bleibt diese Fahrt nur in unseren Köpfen für alle Zeit erhalten. Und es muss schon viel schön sein, wenn der Chauffeur sich „Mein Gott, wie ist das schön hier" murmeln hört.  

Wir sind in einem seltsamen Flow, als wir hinter Galway auf die R 339 und R 446 nach Südosten schwenken. Die Fahrt über diese Straßen ist nicht minder beeindruckend, unser Flow wird jedoch mehrmals ziemlich ruppig zusammengerüttelt, wenn wir in eine jener unsichtbaren Senken eintauchen, an deren anderem Ende man wie ein Schispringer vom Schanzentisch katapultiert wird. Das sind keine Schlaglöcher, sondern lange Wannen, die man nicht sieht, bei trübem Wetter wie heute schon überhaupt nicht. Bei einem dieser Katapulte fliegt Fianna fast von ihrem Reisesofa unter den Tisch, so unverschämt heben wir ab und landen wieder auf dem Boden der Tatsachen. Fianna kann der Schwerkraft gerade noch trotzen, wenn auch unter lautem Protest. Ja, schon gut, war ja keine Absicht.  

Um 16:35 Uhr erreichen wir Raftery's Bar in Craughwell. Hier wollen wir die Nacht verbringen. Als wir auf den Parkplatz hinter dem Haus rollen, haben wir erhebliche Zweifel, dass das eine gute Idee ist. Das Pub ist geschlossen, was nachmittags nicht unbedingt ungewöhnlich ist, aber der Parkplatz macht nicht den Eindruck, als ob er in jüngster Vergangenheit benutzt worden wäre. Den Tipp haben wir aus der Search4Sights-App, müssen aber lernen, dass man nie genug recherchieren kann: Aus andern Einträgen und Foren wird klar, dass das Pub auf Dauer geschlossen hat. Vielleicht auch ein Corona-Opfer. Vielleicht auch nicht, weil irgendwie der ganze Ort einen sehr morbiden und vernachlässigten Eindruck macht. Wir könnten jetzt zwar im Hof stehenbleiben, es ist niemand da, der etwas dagegen haben könnte, aber es ist doch alles ein wenig zu traurig hier. Also weiter.  

Weiter auf der R 446 nach Osten. Nördlich von Loughrea schwenken wir mit der N 65 nach Norden und nehmen dann die M 6; gelegentlich darf es auch mal Autobahn sein. Bei der Anschlussstelle 14 fahren wir auf die R 357 und sind um 17:35 Uhr in Shannonbridge. Hier waren wir schon einmal und wissen, dass man am Hafen stehen kann. Also stellen wir uns auf den Parkplatz am Hafen [N 53° 16' 42,7'' W 008° 03' 00,1''], und zwar ganz allein. Es hat 14 °C und es ist bewölkt, aber es sieht nach Besserung aus.  

Nun dürfen die Mädels sich die Beine ausschütteln, aber viele Freiräume zu ausgedehnten Wanderungen gibt es hier nicht. Gut, dass die beiden sich mit fast allem klaglos arrangieren können.  

Wenige Meter vor und über uns erhebt sich das Luker's, wo wir um 18:30 Uhr vorstellig werden, um unseren Hunger zu stillen. Das Lokal ist etwas modernistisch mit viel freiem Blick auf den Shannon und verzichtet auf jeden designerischen Anspruch. Der Chronist entscheidet sich für einen Fisch mit Kartoffelbrei (mash) und Gemüse, die Reiseleiterin für einen Burger mit Chips. Der Fisch ist gut, der Burger dagegen unambitioniert und anspruchslos wie das Design rundherum. Dazu nehmen wir einen Gin Tonic und ein Red Ale und bezahlen ziemlich schnell 46 €.  

Dann ist Schluss für heute. Und der Chronist hört in seinem Kopf eine Endlosschleife „I had no confidence…" flüstern. Wenn es nur mehr Menschen gäbe, die sich nicht alles zutrauen, vor allem das nicht, wovon sie keine Ahnung haben…  



Ballykeeran / Tullamore / Glendalough
Enniskillen / Westport