Der Bairische Blues fährt ins Blaue - und ist dann mal weg

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Ballykeeran / Tullamore / Glendalough

Tullamore Distillery

Montag, 13. / Dienstag 14.6.2022

An diesem Morgen am Ufer des Shannon bereiten wir mental unseren Rücksturz zum Planeten Bayern vor, aber morgen haben wir erst noch einen spirituellen Termin, weshalb der Rücksturz zwar nicht aufgehoben, aber ein wenig aufgeschoben werden muss. Alles weitere, so einigen wir uns, entscheiden wir später und bleiben unserer Devise treu, nur so viel zu planen, wie unbedingt nötig ist.

Was aber bietet sich an, um uns die Zeit bis morgen zu vertreiben? Wir erinnern uns an den Lough Ree und den dortigen Campingplatz, den wir am Tag vor der Hovawart-Show bei Mick als Warteposition und Sprungbrett nutzten. Damals waren wir wenig amused über den ziemlich chaotischen Trubel auf dem Platz, aber es war Wochenende – und das liegt heute schon hinter uns. So beschließen wir kurzerhand, noch einmal dort vorbeizuschauen. Und da es nicht weit ist, können wir den Tag auch genießen, ohne Kilometer fressen zu müssen.  

Nach dem Morgenspaziergang bittet die Dogwalkerin den Chauffeur aus dem Franz und ihr zu folgen. Draußen, hinter der Steinmauer, die den Parkstreifen von dem dahinterliegenden Grünland trennt, haben sich zwei Esel eingefunden, die, wie ihnen von der Dogwalkerin versprochen, nun auf ein Karottenfrühstück warten. Das trifft sich prima, weil wir von den Rüben sowieso noch viel zu viele im Lager haben. Und so gehen wir ohne Hunde Esel kuscheln, die mit mächtigem Appetit und ohne schlechtes Gewissen unseren gesamten Rübenvorrat verputzen.  

Dann sind wir mit Frühstück dran, und bei bedeckten 12 °C verlassen wir um 12 Uhr Shannonbridge. Über die R 444 geht es erst nach Osten, noch einmal vorbei an der Klosterruine von Clonmacnoise, bevor wir bei Doon auf der N 62 nach Norden schwenken. Um 12:45 Uhr machen wir bei SuperValu in Athlon [N 53° 26' 01,6'' W 007° 55' 08,1''] einen Einkaufsstopp, um uns für die letzten Tage zu versorgen.  

Um 13:30 Uhr ist das erledigt und schon fünf Minuten später stehen wir vor Lough Ree East Camping & Caravan [N 53° 26' 54,5'' W 007° 53' 28,4''] in Ballykeeran. Heute werden wir vom Chef empfangen, der offenbar glaubt, uns mit 30 € pro Nacht ein Schnäppchen unterbreiten zu können. Als ihm die Reiseleiterin sagt, dass seine Frau vor gut zwei Wochen nur 28 € haben wollte, beugt er sich ohne Umstände der normativen Kraft der Weiblichkeit und findet, dass 28 € fast so gut wie 30 € seien.  

An diesem Montag ist, wie vermutet, nicht viel los, weswegen wir unseren alten Platz wieder ansteuern und uns bei bewölkten 16 °C häuslich einrichten.  

Den Rest des Tages lassen wir mit Nichtstun, Futtern und Badegängen für die Mädels verstreichen. Wir fühlen uns ein wenig wie im Abklingbecken. 


Unser spiritueller Termin findet heute erst um 14 Uhr statt, und da wir dorthin nur rund 90 Kilometer vor uns haben, klingt der heutige Dienstag so langsam an wie der gestrige Montag abgeklungen ist. Wir frühstücken entspannt, machen uns fein und den Franz fertig und fahren um 11:50 Uhr los. Heute messen wir schon fast tropische 17 °C, und es ist auch eher wolkig als bewölkt.  

Unser spirituelles Ziel liegt südöstlich, was bedeutet, dass wir wieder durch Athlone müssen. Kurz bevor wir dort auf die Autobahn fahren wollen, sehen wir vor uns eine Polizeisperre, die ganz nach einer allgemeinen Verkehrskontrolle aussieht. Da wir das Spirituelle noch vor uns haben und noch nicht in uns und uns auch sonst keiner Schuld bewusst sind, rollen wir sehr entspannt auf die Uniformierten zu. Zwei Polizisten stehen an der Einfahrt zu einem Parkplatz, um die Fahrzeuge auszuleiten, ein dritter mitten auf der Straße. Wir werden nicht herausgewunken, aber der Straßenposten kommt direkt auf uns zu und bedeutet uns anzuhalten. Ja, was denn sonst? Niederfranzen etwa?  

Wir haben es erkennbar mit dem Chef der Mission zu tun. Er tritt freundlich ans Fenster der Beifahrerin (das ist in den britischen Genen verankert, weil hierzulande die rechte Fahrzeugseite die Schokoladenseite ist, was ja auch in unserem Fall zutrifft) und will wissen, wie es uns geht, woher wir kämen und wohin es gehen solle. Das klingt nicht nach Inquisition oder Hinterhalt, sondern nach echtem Interesse und einem sehr freundlichen Plausch. Zumindest die Frage nach unserer Herkunft hätte er sich sparen können, weil er ganz offensichtlich an unserem Kennzeichen erkannt hat, woher wir kommen. Aber ein bisschen unschuldiger Smalltalk muss schon sein. Wir klären ihn auf und er hört sich an, was wir vorhaben, gibt uns den einen oder anderen Tipp, was wir unbedingt noch sehen müssten und freut sich über all das, was wir schon gesehen haben und wie begeistert wir von seiner Heimat sind. Doch dann wird er endlich los, was vermutlich der Grund unserer Ausbremsung war, als er unser Kennzeichen gesehen hat. Er setzt ein stark betrübtes Gesicht auf und klagt: „We miss Angela Merkel very much. She was our best friend". Herrje, Liebesschwüre am Straßenrand! Das ist ja fast wie am Straßenstrich. Es schmerzt, dass wir seine Zuneigung nicht erwidern können und teilen ihm freundlich, aber korrekt mit, dass sie nicht unsere beste Freundin war. Im Pub hätten wir ihm unsere Gründe dafür auch noch ausgerollt, aber hier wäre das wohl fehl Platze, zumal sich hinter uns schon eine Schlange staut, die alle warten müssen, ob sie rausgewunken werden oder weiterfahren dürfen. Der uniformierte Merkeljünger wird ein wenig verlegen, offenbar nicht wegen seiner Zuneigung zu Angela, sondern weil er fürchtet, uns zu nahegetreten zu sein. Das ist ebenfalls britisches Erbgut. Wir helfen ihm mit ein paar fröhlichen Sätzen und viel Lachen aus der Patsche, was er erkennbar schätzt. Dann tritt er zur Seite, wünscht uns noch einen save drive und winkt uns weiter. Wir winken zurück. O Gottele, sind die alle nett hier.  

Wir fahren auf die M 6 und befüllen den Franz um 12 Uhr auf einer Autobahnraststätte mit 65,5 l à 2.10, 9 €, was sich zu 138 € summiert. Es ist nicht die Autobahn, die uns so tief in die Tasche greift. Inzwischen ist es landauf, landab so teuer geworden; unter 2.07 € ist hier kein Diesel mehr zu bekommen, nicht selten werden sogar 2.12 € gefordert.  

Um 12:45 Uhr fahren wir auf den Parkplatz der Tullamore Whiskey-Distillery [N 53° 15' 10,9'' 007° 29' 59,5'']. Das Wetter hat uns bis hierher verfolgt und liefert die gleichen Werte wie bei unserer Abfahrt in Ballykeeran. Wir haben noch eine Stunde Zeit, also lassen wir die Mädels kurz raus und hängen entspannt im Franz herum.  

Um 14 Uhr beginnt unsere Führung durch die Whiskey-Destille von Tullamore und damit ein gewissermaßen spiritueller Abschluss einer langen Fahrt ins Blaue, der, wenn man nicht an sich hält, leicht im Blauen enden kann. Zur Begrüßung wird uns und den anderen sechs Mitbesuchern (acht ist das Maximum) die korrekte Herstellung eines Irish Coffees demonstriert und anschließend kredenzt. Das lässt sich gut an. Währenddessen führt uns die Gastgeberin durch die Geschichte der Destillerie und in die Philosophie der Tullamore Whiskeys ein.  

Hinter Tullamore Dew verbirgt sich nicht nur eine sehr verwickelte Whiskey-Geschichte, sondern auch ein ungewöhnlicher Lebens- und Karriereweg.  

Wegen der günstigen wirtschaftlichen Bedingungen Anfang des 19. Jh. nutzte Michael Molloy aus Tullamore die Gelegenheit und gründete in seiner Heimatstadt, auf dem Gelände einer aufgelassenen Whiskey-Brennerei, 1829 eine neue Brennerei. In den 40er Jahren erbte Molloys Neffe Bernard Daly die Brennerei. Der führte die Brennerei zu Erfolg und modernisierte umfassend. 1880 ernannte Daly den Brennmeister und früheren Maschinenbediener Daniel E. Williams zum Manager. Daly und seine Familie wurden Teil des lokalen Kleinadels, verlagerten ihre Interessen immer mehr vom Geschäfts- zum Gesellschaftsleben und übergaben 1900 die Brennerei komplett an Williams, der damit seine Karriere vom Maschinisten über den Brennmeister und General-Manager bis um Eigentümer vollendete.

Unter Williams blühte die Marke weiter auf, litt aber immer mehr unter dem starken Druck amerikanischer Whiskys. 1954 musste die Brennerei schließen. Der Markenname blieb erhalten und die Produktion bei der Midleton Distillery in Cork fortgeführt. Zum Gedenken an Williams fügte man in dieser Zeit dessen Initialen dem Markennamen Tullamore hinzu: D. E. W. – Dew. So entstand die Weltmarke Tullamore Dew. Obwohl die Tullamore Dews ständig auf dem Markt verfügbar waren – auch der Chronist hat in seiner Jugend manche Musik-Session mit Tullamore begonnen und mit Tullamore beendet – blieb der Marktanteil gering, und zwar 60 lange Jahre. 1965 wurde der Markenname an Power's verkauft, dann in die Irish Distillers Group integriert. 1993 ging die Marke an die C&C Group und schließlich, 2010, an William Grant and Sons, in deren Händen sich die Marke bis heute befindet.  

Doch seit September 2014 werden die verschiedenen Tullamore Dews wieder in einer neuen und hochmodernen Destillerie in Tullamore entwickelt, destilliert, gelagert und vertrieben. Hier sind wir heute und sehen uns diese neue und inzwischen sehr erfolgreiche Destille an, was auf einer Demowand stolz präsentiert wird: 11,6 Millionen Liter Whiskey, 18,5 Millionen abgefüllte Flaschen, aus denen sich die Menschen rund um den Globus 364 Millionen Gläser füllen – pro Jahr. Hinter Jameson ist Tullamore heute der zweitgrößte Whiskey-Produzent Irlands.  

Wir wollen jetzt nicht dem Versuch erliegen, die Varianten, Zusammensetzung und Geheimnisse der Whiskeys aus Tullamore in einer Art Pro-Seminar breitzutreten; wer sich dafür interessiert, kann das auf den Seiten der Destillerie selbst erledigen. Für uns ist die Begehung der Brennerei beeindruckend genug: die blitzblanken Produktionsräume und Brennblasen, die hoch aufragenden edelstählernen Destillationstürme und nicht zuletzt das gigantische Fasslager, für dessen Besuch wir übrigens die Handys deponieren müssen, nicht aus Spionagegründen, sondern weil die ätherische Verdunstung aus den Fässern das ganze Lager in die Luft jagen könnte, wenn etwa so ein Handy zu Boden fällt und der Akku platzt. In diesem Lager wurde deswegen sogar die elektrische Uhr durch eine alte mechanische ersetzt. In der Produktion findet man praktisch keine Menschen, nur wenige an Computern steuern die maximal automatisierten Prozesse.  

In einer fassförmigen Lounge im Lager werden uns drei Whiskeys kredenzt, mit denen der Chauffeur nur seine Lippen befeuchtet, sie aber dennoch als delikat einstufen kann. Zurück im Hauptgebäude folgt die Verkostung weiterer, selteneren Proben, die der Chauffeur wiederum nur mit einer Zungenspitze würdigen darf. Nach rund hundert beeindruckenden Minuten werden wir mit freundlichen Worten und in der Hoffnung auf einen Geschäftsabschluss entlassen.  

In dieser Hinsicht ist der Bairische Blues eine sichere Bank: Wenn etwas kaufwürdig und attraktiv verpackt ist, kann vor allem die Reiseleiterin nur selten daran vorübergehen. Nun ist es natürlich nicht so, dass die Tullamore-Flaschen einen besonderen Verpackungsreiz auslösen, auch die Labels treiben sie nicht in einen Kaufrausch, aber in Tullamore kann man seinen Spieltrieb ausleben und einigermaßen teuer dafür bezahlen. Und eine im Parallelleben ausgewiesene Spielratz wie die Reiseleiterin kann einer solchen Verlockung kaum widerstehen.  

Bei Tullamore darf man sich nämlich an einem Automaten seinen eigenen Blend zusammenmixen. Auf dem Display wird man aufgefordert, zuerst die drei Sorten Irish Whiskey – Grain, Malt und Pot Still (bitte selber nachlesen) – in einem selbstgewählten Verhältnis zu mischen. Dazu kann man sich aus drei kleinen Röhrchen jeweils eine kleine Probe herauslassen, um sich die Unterschiede auf der Zunge zergehen zu lassen. Anschließend wird man durch eine Reihe von Wahlmöglichkeiten zur Geschmacksoptimierung geführt: bold oder delicate, rich oder crisp, sweet oder dry, fruit cake oder sticky toffee, pear oder chilli und leathery oder cocoa hazelnut. Wenn man sich jeweils entschieden hat, stellt man eine Tullamore-Flasche unter den Ausgießer und füllt den eigenen Blend ab, Korken drauf, Siegel drüber und Etikett mit einmaliger Blend-Nummer aufgeklebt. Fertig ist ein sehr persönlicher Whiskey und ein sehr persönliches Geschenk. Würde irgendjemand etwas darauf verwetten, dass wir ohne eine solche handverlesene Flasche die Destille verlassen könnten?

Um 16 Uhr ist der Mischvorgang abgeschlossen und das Tröpfchen bezahlt. Um 16:15 Uhr verlassen wir Tullamore. 

Über verschiedenen R-Straßen und eine kurze Strecke über die M 7 geht es weiter nach Südosten. Und noch einmal dürfen wir die ganze Schönheit Irlands genießen und mit den Wicklow Mountains eine allerletzte Perle in unserer Reiseschatulle ablegen. Der höchste Berg Lugnaquilla baut sich 925 Meter hoch auf, aber auch wir bringen es bei der Durchquerung auf fast 500 Meter. Diese Berge bestehen überwiegend aus Granit und Schiefer und sind größtenteils mit Mooren bedeckt, dazu kommen Farne, Stechginster und Heidekräuter. Vor allem die letzten lassen die Hügel in der Blütezeit violett erblühen. Die magere Landschaft ist wie überall in Irland das Werk von Menschen, die schon seit der Frühzeit die Berge großflächig abgeholzt haben. Seit einigen Jahren findet gelegentlich wieder eine Aufforstung statt, allerdings nicht mit den ursprünglichen Eichen und Birken, sondern mit schnell verwertbaren Fichten. Auch Iren können irren.  

Für uns ist die Weite, die sich jenseits der Straße ausbreitet, überraschend: weites Grasland mit Schafen, aber keinerlei Mauern, Zäune oder Sträucher, die die Straße begrenzen. In den Bergen geht es dann jedoch wieder gewohnt eng zu mit den vermissten Mauern und dem hautnahen Bewuchs. Wir spüren, dass diese Berge ein letzter Gruß Irlands an uns sind. Vielleicht auch eine Einladung, die wir, wann immer wir die Gelegenheit finden sollten, nur allzu gerne annehmen.  

Um 18:20 Uhr kommen wir in Glendalough an. Der Lower Car Park ist nicht mehr für Übernachtungen freigegeben und der Upper Car Park kostet für Womos 15 € die Nacht, was uns trotz der offenbar zauberschönen Lage unangemessen erscheint, zumal wir von dort zum Essen wieder eine halbe Stunde in den Ort gehen müssten – und anschließend wieder zurück. Dazu sind wir heute zu faul, und es ist ja schon fast halb sieben. Also kurven wir ein wenig um die Ecken und finden mitten im Ort, hinter den Fressmobilen für die Touristen einen Parkplatz, der allerdings ein wenig kurz ist, sodass wir das gesamte Franzenheck über einen Bach hängen lassen müssen, um die vorbeiführende Straße nicht zu blockieren [N 53° 00' 40,9'' W 006° 19' 37,5'']. Aber wir stehen direkt neben God's Cottage. A centre for Christian healing. Was soll uns da schon passieren? Nur wenige Schritte weiter liegt die Klostersiedlung mit dem Friedhof, St. Kevins Church und der Ruine der Glendalough Cathedral. Dafür hängt man seinen Hintern doch gerne mal eine Nacht aus dem Fenster. Es hat 15 °C bei einem freundlich weiß-blauen Himmel.  

Die Dogwalkerin nimmt sofort die Mädels zu einem Spaziergang hinaus in die Natur, vorbei am Lower Lake, weiter zum Upper Car Park am Upper Lake und wieder zurück (Glendalough = irisch Gleann Dá Loch = Tal der zwei Seen). Der von den geleisteten 158 Kilometer völlig erschöpfte Chauffeur begnügt sich mit der Kultur dieser Lokation, wegen der nicht nur er, sondern die halbe Welt nach Glendalough kommt.

Kevin von Glendalough (Kevin von Wicklow, Kevin von den Engeln) ist einer der irischen Top-Heiligen aus dem 6. und 7. Jahrhundert. Da die ältesten schriftlichen Überlieferungen erst 500 bis 600 Jahre nach seinem Tod entstanden, weiß man nicht viel Zuverlässiges über ihn. Nur, dass er ein sehr Gläubiger gewesen sein soll, was ihm gerüchteweise 120 Lebensjahre beschert habe (498 – 618).  Damit läge er zwar deutlich hinter Methusalem (969 Jahre) und Abraham (175), wäre aber immerhin auf Augenhöhe mit Moses.

Kevin stammte aus königlichem Geschlecht. Angeblich wurde seinen Eltern schon vor seiner Geburt von einem Engel verkündet, dass er „Vater vieler Mönche" sein werde. Mit solch einer himmlischen Mitgift versehen, wundert es dann kaum, dass er schon in frühen Jahren Wunder vollbracht haben soll, was ihn zwar offenbar nicht zur Rechten Gottes brachte, aber immerhin gemäß Familienbeschluss zur christlichen Ausbildung ins Kloster Kilnamanagh bei Dublin. Nach einer Rom-Wallfahrt zog er sich nach Glendalough zurück, fand dort schnell Anhänger und gründete um 549 am oberen der beiden Seen eine Abtei, der er bis zu seinem Tod als Abt vorstand. Seinen Anhängern lehrte er das asketische Leben und lebte selbst zurückgezogen im Wald und am Ufer des Sees. Wenigstens das unterscheidet ihn von seinen zeitgenössischen Nachfolgern. Die Fundamente seiner „Zelle" im Wald (Saint Kevin's Cell) und die Höhle, in der er angeblich schlief (Saint Kevin's Bed) sind bis heute erhalten. In der Folge entstand in Glendalough eine Diözese, die bis Anfang des 13. Jahrhunderts Bestand hatte. 

Die Abtei entwickelte sich nach Kevins Tod schnell zu einem Mittelpunkt des christlichen Lebens. In der Nähe des unteren Sees entstand eine große Klosterstadt mit einem typisch irischen Rundturm, einer Kathedrale und der Sankt Kevins Kirche. Was heute davon noch übrig ist, stammt mutmaßlich aus dem 10. bis 12. Jahrhundert.  

1368 wurde das Kloster von englischen Truppen angegriffen und zerstört, hielt sich aber noch bis 1539 am Leben. Dann machte Heinrich VIII. kurzen Prozess und löste es wie alle anderen katholischen Klöster in seinem Königreich auf. Kevin musste allerdings noch bis 1903 warten, bis er endlich heiliggesprochen wurde. Das ist in anderen Fällen schon mal deutlich fixer gegangen.

Hierher zieht es also nicht nur den kulturbeflissenen Chronisten, sondern eine inständig gläubige Christenschar. Und ohne Kevin ist hier nicht viel denkbar, nichts, was nicht seinen Namen trägt und mit ihm wirbt. Ein Rundgang in der verfallenen Klosteranlage mit der Ruine der Kathedrale und der kleinen, zum Teil erhaltenen und zum Teil rekonstruierten St. Kevins Church zwischen all den umgestürzten und aneinander gelehnten Grabsteine vermittelt dem Besucher jenen mittelalterlichen Schauer, den die Menschen auf Mittelalterfesten suchen. Man hört zwischen den alten Gemäuern förmlich E. A. Poes Raben „Nevermore" krächzen.  

Kurz vor 20 Uhr kehren die drei Damen zurück und wir gehen ins Restaurant an der nächsten Ecke, das ausnahmsweise nicht Kevins Namen trägt, sondern Casey's Bar heißt. Die Reiseleiterin entscheidet sich heute zum Abschied von Irland für ein Drei-Gänge-Menü für 30 €, der Chronist bescheidet sich mit einer Hühnerbrust für 18 €, dazu lassen wir uns Chardonnay und Red Ale servieren. Das Essen ist tadellos, nur der Service ist lausig. Überall wuseln kellnerische Nachwuchstalente herum, von denen sich niemand verantwortlich fühlt. Bei Durchsicht der überreichten Rechnung stellt sich dann heraus, dass uns nicht das Menü, sondern alle drei Gänge einzeln berechnet werden. Auf unsere Reklamation hin, wird das korrigiert – aber anstatt des teuren Steaks die billigere Hühnerbrust ins Menü aufgenommen. Wir lassen es dabei und uns nicht den letzten Tag in Irland vermiesen. Aber ein paar Euros holen wir uns über das einbehaltene Trinkgeld zurück.  

Gegen 22 Uhr legen wir uns zum (vorerst) letzten Mal in Irland zur Ruhe. Nur die Vorstellung, dass wir frei schwebend über einem gurgelnden Bächlein schlummern, in das wir abstürzen würden, wenn es der heilige Kevin wegen unserer Lästerei für angemessen befände, hält den lästernden Chronisten noch etwas länger wach, während sich die unschuldige Reiseleiterin alsbald lautmalerisch dem gurgelnden Bächlein anschließt. Sie ist nicht auf ein Christian Healing Centre angewiesen.  



Enniscorthy / Fishguard
Roundstone / Shannonbridge